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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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Anblick fremder
     Besucher die Flucht und versteckte sich in ihrem Büro, doch an diesem Tag steuerte sie geradewegs auf Sarah und ihre Begleiterin
     zu. Sie war sichtlich erregt und auf der Suche nach jemandem, bei dem sie sich Luft machen konnte.
    Ohne die beiden Frauen zu begrüßen, platzte sie heraus: »Momentan ist einfach alles nur schwierig.« Sarah machte ein betroffenes
     Gesicht.
    »Gestern hatte die Betreuerin aus Gruppe 3 einen Anfall. Sie hat wie wild um sich geschlagen – ich konnte sie gar nicht beruhigen.
     Sie hat mehr Geld verlangt, da sie, wie sie sagt, mit ihren zwei Töchtern sonst nicht über die Runden komme. Aber ich habe
     nichts, was ich ihr geben könnte. Und ich verstehe es auch nicht. Sie hat vor Kurzem eine Million Rubel bei einem Gewinnspiel
     gewonnen. Aber sie sagt, sie brauche noch mehr. Und das Schlimmste ist, dass sie jetzt vielleicht nicht mehr zur Arbeit kommt.«
    Sarah konnte ihrer Freundin vom Gesicht ablesen, was sie dachte: Wer ist diese verwirrte alte Frau? Sie überlegte, ob sie
     ihr Adelas Personalprobleme dolmetschen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Die Wahrheit hätte sie nur abgeschreckt,
     die Kinder im Babyhaus, die ihre Hilfe so dringend benötigten, zu therapieren.
    Genauso plötzlich, wie es aus Adela herausgeplatzt war, versiegte ihr Redefluss auch wieder, und widerwillig stimmte sie dem
     Vorschlag mit der Musiktherapie zu. Doch wie bei allen guten Dingen im Babyhaus 10 blieb es nicht lange dabei. Nach nur drei
     oder vier Malen wurden die Therapiestunden mit der Begründung eingestellt, die Musik rege die Kinder zu sehr auf.
    |156| Sarah hatte ihren Glauben an das Babyhaus ohnehin schon verloren, da stolperte sie in einer russischen Zeitung über einen
     Artikel, in dem Adelas Babyhaus als ein »Reich von Engeln« dargestellt wurde, eine Insel des Guten inmitten einer schlechten
     Welt, mit tüchtigen, liebevollen und fürsorglichen Angestellten. Alles, was die Journalistin – ein Mitglied der Kirchengruppe,
     die jeden Dienstag ins Babyhaus kam – als positiv beschrieb, empfand Sarah als schädlich und einschränkend. So wurde der hohe
     Zaun als Schutzvorrichtung vor Herumtreibern und Alkoholikern gerühmt. »Für mich bedeutete der Zaun vielmehr die Isolation
     der Kinder von der Außenwelt«, sagt Sarah, während sie ein verblasstes Exemplar des Artikels in den Händen hält. »Verwandte
     wurden auf diese Art ferngehalten, und die dahinter verborgene Welt ermöglichte sämtliche Formen des Missbrauchs. Ich konnte
     nicht glauben, dass sie das ›monotone‹ Leben im Babyhaus einen Segen im Vergleich zu der hektischen und verkommenen Welt draußen
     nannte. Sie fand sogar eine Entschuldigung für die Vernachlässigung der Kinder: Da sie alle ›schwer krank‹ und damit ›verloren‹
     seien, brauchten sie keine ärztliche Betreuung.
    Mein Befremden erregte auch ihre Meinung zu Anna, dem kleinen Mädchen, dem jene britische Wohltätigkeitsorganisation einen
     Rollstuhl beschafft hatte. Sie beschrieb Anna als ›aufgewecktes und neugieriges Mädchen‹, das – ebenso wie Wanja – die Diagnose
     ›schwachsinnig‹ erhalten habe, was die Journalistin ein intellektuelles Todesurteil nannte. Sie vergaß jedoch zu erwähnen,
     dass die Vernachlässigung und die Verwahrung in einem Zimmer, in dem außer Anna kein Kind sprechen konnte, unmittelbar für
     diese Diagnose verantwortlich waren. Zum Kochen brachte mich schließlich ihre Aussage, dass das Verhalten der Angestellten,
     entgegen Dr. Swangers Anraten kein Stützkorsett für Anna anzufertigen, damit zu rechtfertigen sei, dass derartige Unannehmlichkeiten
     für ein vollkommen perspektivloses Kind überflüssig seien.
    Ich kam zu dem Schluss, dass Adela in den Augen dieser |157| Kirchengruppe unfehlbar sein musste – aus dem einfachen Grund, weil sie gläubig war. Wie anders war da doch Wika, die trotz
     ihres tiefen Glaubens sofort erkannt hatte, dass Behinderungen in Babyhäusern nicht nur nicht therapiert, sondern mitunter
     hervorgerufen wurden.«
    Im Dezember brachten Sarah und Wika Wanja zu einer Begutachtung ins Zentrum für Heilpädagogik, einer unabhängigen Therapie-
     und Tageseinrichtung für Kinder mit Behinderungen in Moskau. »Der Kontrast zwischen dem Babyhaus und dieser Einrichtung hätte
     größer nicht sein können. Wie konnte es in einer Stadt, die das Babyhaus 10 betrieb, gleichzeitig ein solches Zentrum geben?
     Zum ersten Mal wurde Wanja wie ein Mensch behandelt.

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