Wolkengaenger
Nirgends sah man jemanden im weißen Kittel, und der Zentrumsleiter trug
ein T-Shirt mit der Aufschrift ›Kein Kind ist bildungsunfähig‹. Nachdem sich das Personal vergewissert hatte, dass Wanja sich
wohlfühlte, gaben sie ihm eine Rechentafel zum Spielen, ermunterten ihn, die Holzkugeln zu befühlen, und lobten ihn, wenn
er etwas Gescheites sagte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Wanja eine Sitzung bei einer Physiotherapeutin, die ihn über
einen großen Gummiball streckte. Im Anschluss durfte er mit dem Personal zusammensitzen und Tee trinken – aus einer Porzellantasse
mit Untertasse –, und sich selbst Zucker nehmen. Was für ein Unterschied zu jenem Fläschchen mit grauem Brei, das man ihm
vor Kurzem noch durch die Eisenstäbe seines Gitterbetts gereicht hatte. Wir bekamen eine Ahnung davon, wie sein Leben aussehen
könnte.
Während ich der Beurteilung dieses ausgemergelten sechsjährigen Jungen mit den dürren Beinchen zusah, versuchte ich mir vorzustellen,
wie ein Außenstehender, der nichts über die (Un-)Art der staatlichen Betreuung in Russland wusste, wohl reagieren würde, wenn
er Wanja in dieser Verfassung anträfe. Er wäre überrascht, dass keiner der Anwesenden zum Telefon griff und der Polizei einen
Fall von schwerer Kindesmisshandlung meldete. Doch jeder im Raum wusste, dass hier kein Gesetzesverstoß vorlag, da der Staat
billigte, wie mit Wanja |158| umgegangen wurde. Nach diesem Verständnis trug stets das Kind die Schuld an seinem Zustand. Und aus Sicht der Behörden irrten
die staatlichen Einrichtungen nie. Doch wir hier am Tisch wussten, dass es sich genau andersherum verhielt. Es war das System,
das aus einem begabten ein gebrechliches Kind gemacht hatte.«
Zurück im Babyhaus, waren es ausschließlich freiwillige Helferinnen, die sich für Wanjas Weiterentwicklung verantwortlich
fühlten. Wika konnte ihre Freundin Asja dazu bewegen, zweimal pro Woche vorbeizukommen, um Wanja und Andrej zu unterrichten.
Schnell lernte Wanja die Jahreszeiten, Farben sowie russische Märchen. Innerhalb von zwei Monaten war aus ihm ein anderes
Kind geworden. An einer dieser Unterrichtsstunden nahm auch Sarah teil. Asja war erlaubt worden, einen Raum zu benutzen, der
mit einer Sprossenwand, einem großen Spiegel und kindgerechten Geländern zum Laufenlernen eingerichtet war. Der »eigentliche«
Zweck dieses Raumes war an dem Teppich zu erkennen, der aussah, als hätte noch nie jemand einen Fuß darauf gesetzt: Es war
ein Ausstellungsraum. Obwohl Wanja und Andrej beinahe ihr gesamtes Leben im Babyhaus 10 verbracht hatten, waren sie nie zuvor
in diesem Therapieraum gewesen und fühlten sich wie in Aladins Schatzhöhle.
»Erstaunt beobachtete ich, dass Wanja im Unterschied zu anderen Heimkindern genau wusste, was er wollte«, erinnert sich Sarah.
»Er überlegte sich vorher, ob er bei etwas mitmachen wollte oder nicht. Hatte er keine Lust dazu, krabbelte er zu einem Geländer,
zog sich daran hoch, warf sich vornüber und landete mit einen Purzelbaum auf dem Rücken. Er ging immer bis an seine Grenzen.
Wenn Asja ihn dann zu sich rief, sagte er: ›Einen Moment!‹, und beendete erst, was er gerade machte, bevor er sich zu ihr
gesellte.«
Während die beiden Jungen den Raum erforschten, konnte man erkennen, dass sie Entwicklungsstufen aufholten, die sie nie hatten
durchleben dürfen. Mit Begeisterung taten sie Dinge, an denen Zweijährige ihre Freude gehabt hätten: Kisten |159| ein- und wieder ausräumen oder Hoppe-hoppe-Reiter spielen.
Wanja war fasziniert von einem ausgesteckten Telefon, das auf einem kleinen Tischchen stand. Sarah tat so, als würde sie mit
Wika sprechen, und ermunterte Wanja, mitzumachen. Doch dieser erteilte ihr eine Abfuhr. »Sarah, das Telefon ist kaputt«, sagte
er. »Wie soll ich denn da mit Wika telefonieren?«
Als Asja ein bestimmtes Lied anstimmte, ließ er alles stehen und liegen und krabbelte so schnell er konnte zu ihr hinüber.
Er liebte es, den Refrain zu schmettern:
»Ich bin schon wach«
.
Während Wanja immer neue Fortschritte machte, blieb im Babyhaus alles unverändert. Niemanden kümmerte es, ob er ärztlich behandelt
wurde oder nicht, und es war schließlich Sarah, der es dank der Hilfe einer anderen russischen Menschenrechtsorganisation
gelang, einen Termin für Wanja beim Chefarzt des Krankenhauses Nr. 58 für Kinder mit infantiler Zerebralparese zu bekommen.
Wanja schlug weiter Purzelbäume und
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