Wolkengaenger
Sommer 1996 lernte ich etwas ganz Entscheidendes dazu«, erinnert sich Wika. »Selbst wenn man auf
aussichtslosem Posten kämpft, darf man nicht aufgeben. Doch erst wenn man sich eingesteht, dass man machtlos ist, erhört Gott
die Gebete. Wanjas Rückkehr war in der Tat ein Wunder.«
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|153| 11.
MIT KNAPPER NOT ENTRONNEN
Teil 1
August bis Dezember 1996
Der Artikel über Wanja hatte einen einzigen Haken: der Zeitpunkt seiner Veröffentlichung. Er erschien wie angekündigt im August,
doch zu dieser Zeit machten Alan und Sarah gerade Urlaub in der abgeschiedenen Villa eines verschrobenen Englischprofessors
in Griechenland – ohne Strom und Telefon. Die einzige Möglichkeit, die beiden zu erreichen, war das Telefon einer Taverne
am Strand, deren Nummer Alan hinterlassen hatte. Das Problem war nur, dass dort niemand Englisch verstand.
Der Artikel erschien an einem Samstag, und während des gesamten Wochenendes stand das verstaubte Wandtelefon in der Taverne
nicht mehr still. Doch alle Anrufer scheiterten an der Sprachbarriere. Erst am Montag, als Sarah zufällig gerade in dem Lokal
zu Mittag aß, hatte eine Anruferin aus England Glück. Sie hieß Linda und erzählte Sarah, dass Wanja ihrem eigenen Sohn Philip,
heute vierzehn sei, verblüffend ähnlich sehe. Auch bei ihm hätten die Ärzte infantile Zerebralparese diagnostiziert, die er
aber inzwischen überwunden habe. Sie selbst sei von Beruf Physiotherapeutin und wisse daher genau, was zu tun sei, um Wanja
das Laufen beizubringen. »Ich kann nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, schöne Dinge zu tun, wenn ich gleichzeitig
weiß, dass dieser kleine Junge die Hölle durchleidet.«
Sarah erklärte der Frau, dass nichts von alldem möglich sei, bevor sie nicht die Hürde der Adoption von Russland nach Großbritannien
genommen hätte – eine kostspielige und langwierige Angelegenheit. Hinzu kam, dass die Adoption eines |154| Kindes, das in einer Anstalt gewesen war, unter Umständen gar nicht möglich war. Doch nichts, was Sarah sagte, brachte die
Frau von ihrem Vorhaben ab, im Gegenteil: Sie kündigte an, unverzüglich mit dem Sammeln von Spenden zu beginnen und einen
Pass zu beantragen.
Mit gemischten Gefühlen legte Sarah auf. Alles klang nach der perfekten Mutter für Wanja. Allerdings hatte Sarah nie die Absicht
gehabt, in eine internationale Adoption verwickelt zu werden. Sie war nach wie vor der Meinung, dass dieser begabte und willensstarke
Junge nach Russland gehörte, auch wenn sein Platz dort erst noch gefunden werden musste. Der Anruf machte ihr klar, wie naiv
Alan und sie gewesen waren. Sie hatten Wanja zum Aushängeschild all jener verlassenen russischen Kinder gemacht, die aufgrund
einer Fehldiagnose ein ähnlich schreckliches Schicksal erleiden mussten. Dass dies zwangsläufig in Adoptionsangeboten münden
würde, hatten sie nicht bedacht. Wika hingegen war ihr längst einen Schritt voraus: Sie hatte bereits alle innerstaatlichen
Optionen geprüft und erkannt, dass Wanjas Zukunft im Ausland lag.
Und tatsächlich hielt jene Engländerin namens Linda Wort und verbrachte die kommenden Monate damit, Geld für eine Reise nach
Moskau zu sammeln.
Was Wanja betraf, so bedeutete seine Rückkehr ins Babyhaus nicht den Beginn eines neuen, sondern vielmehr den Sprung zurück
in sein altes Leben, zurück in das Zimmer mit den unheilbaren Fällen. Dort erging es ihm wie zuvor; die versprochene »Weiterbehandlung«
– weshalb er ja angeblich ins Babyhaus zurückgeschickt worden war – wurde nie wieder thematisiert. Niemand aus dem Team von
Defektologen, Logopäden, Masseuren oder Ärzten zeigte Interesse daran, ihn zu fördern, und auch Adela wies ihr Personal nicht
dazu an. Doch Wanja war froh darüber, wieder mit seinem Freund Andrej zusammensein zu können und alle vier Tage die Liebe
seiner Betreuerin Walentina zu genießen. Was sich jedoch verändert hatte, war Wanjas körperliche Verfassung. Die Monate in
der Anstalt von Filimonki hatten ihn ausgezehrt, er war bis |155| auf die Knochen abgemagert, seine Hände zitterten und wirkten riesig im Vergleich zu seinen dürren Armen und Beinen, er war
totenbleich und hatte dunkle Ringe unter den Augen.
Etwa zu dieser Zeit brachte Sarah eine junge Frau mit ins Babyhaus. Sie war mit einem Diplomaten verheiratet, ausgebildete
Kindergärtnerin und wollte gern musiktherapeutisch mit den Kindern arbeiten. Für gewöhnlich ergriff Adela beim
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