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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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jeder in seine eigenen Gedanken versunken, zurück nach Moskau.
     
    Vierundzwanzig Stunden später war Wika noch immer enttäuscht darüber, wie gleichgültig sich der Journalist Wanjas Schicksal
     gegenüber verhalten hatte. Sie musste einfach wissen, ob er den Artikel schreiben würde. Obwohl es schon kurz vor Mitternacht
     war, griff sie zum Telefon und wählte Alans Nummer. Abermals war er der charmante Engländer und sagte, er könne Wanja gar
     nicht vergessen, da der Geruch der Anstalt noch immer in seinem Notizbuch hinge. Er habe mit seinem Redakteur gesprochen,
     der zu bedenken gab, dass |148| die Geschichte in England für Aufregung sorgen könnte, und die Leser in Scharen bei der Zeitung anrufen und ihre Hilfe anbieten
     würden.
    »Aber wäre das denn nicht gut?«, fragte Wika. »Vielleicht meldet sich jemand, der Wanja adoptieren will.«
    Alan erklärte ihr, dass die Zeitung da nicht mit hineingezogen werden wolle und auch gar nicht das Personal habe, um all die
     Leseranrufe entgegenzunehmen. Dennoch war es ihm gelungen, den Redakteur davon zu überzeugen, den Artikel während des Sommerlochs
     im August zu bringen.
    Wika legte auf. Sie konnte nicht fassen, dass Alan den Ernst der Lage noch immer nicht begriffen hatte. Jeder Tag, den Wanja
     länger in dem Internat verbrachte, brachte ihn dem Tod ein Stückchen näher. Sie hatte das Gefühl, die Einzige zu sein, der
     das klar war.
    Mitte August erschien Alans Artikel dann schließlich unter der Überschrift MUTTER RUSSLANDS VERGESSENE WAISEN. Die erschütternden
     Bilder von einem Jungen in Zwangsjacke und mehreren Kindern mit Down-Syndrom, die ohne Spielsachen in einem Laufstall zusammengepfercht
     waren, stammten aus dem Internat Nr. 30, einer grauenvollen Anstalt am Stadtrand von Moskau, in der die Kinder unter ähnlichen
     Bedingungen lebten wie in Filimonki. Andrej nahm eine eigene Spalte in dem Artikel ein. Unbeschwert lachend und mit vom Sonnenlicht
     gesprenkeltem blondem Haar hielt er sich einen Plastiktelefonhörer ans Ohr, durch den er mit seiner zukünftigen Familie in
     Florida zu plaudern schien. Das Bild daneben stand in scharfem Kontrast dazu. Es zeigte Wanja, der mit rasiertem Schädel und
     gerunzelter Stirn in die Kamera schaute und zu fragen schien: »Warum bin ich hier? Womit habe ich dieses Schicksal verdient?«
     Nur einem besonders scharfsichtigen Leser wäre die kleine Wölbung in seiner Backe aufgefallen, in der sich eine saure Traube
     versteckte.
    Die Reaktion der britischen Öffentlichkeit auf den Artikel war überwältigend. Eine Frau erklärte sich bereit, Wanja zu adoptieren,
     doch Adoptionen aus dem Ausland nach Großbritannien |149| gestalteten sich schwierig, besonders von Russland aus, da zwischen den beiden Ländern kein Abkommen bestand. Ihre Aussicht
     auf Erfolg ging praktisch gegen null. Wanja wartete also weiter auf seinen Schutzengel.
     
    Im Oktober erhielt Wika ihre Kündigung. Sie ging noch einmal alles durch, was sie für Wanja getan hatte, und stellte fest,
     dass sie auf allen Ebenen gescheitert war. Ihr Versuch, ihn in einem Kinderheim unterzubringen, war am Widerstand der dortigen
     Heimleitung gescheitert. Mit all ihrer Überredungskunst hatte sie Natascha dazu gebracht, ihre elterlichen Rechte aufzugeben,
     damit Wanja adoptiert werden konnte, um anschließend zu erfahren, dass dies nur der erste Schritt in einem langwierigen Verfahren
     war. Sie hatte Journalisten in die Anstalten geführt, damit sie sich selbst ein Bild von den Bedingungen machen konnten, unter
     denen die Kinder lebten, doch nichts war geschehen. Wanja steuerte weiterhin unaufhaltsam auf seinen Tod zu, Wika hatte keine
     Kraft, um weiterzukämpfen. Sie betete, bat um Erleuchtung und erkannte mit einem Mal, dass die Schuld an Wanjas Schicksal
     gar nicht bei ihr lag. Er war weder ihr Sohn noch hatte sie ihn in die Obhut des Staates gegeben oder in die Irrenanstalt
     überwiesen. Sie konnte nichts für ihn tun. »Ich hatte den Nullpunkt erreicht. Mir wurde klar, dass ich ein Niemand war. Ich
     sagte mich von allem los.«
    Nun musste sie die Nachricht nur noch den Menschen im Babyhaus beibringen. Sie hatte das Gefühl, es ihnen schuldig zu sein,
     da auch sie sich um Wanja sorgten. Wika zwang sich aufzustehen, bereitete sich eine starke Tasse Tee mit drei Stück Zucker
     zu, griff zum Telefon und wählte die Nummer des Babyhauses. Sie musste es lange klingeln lassen, und als endlich jemand abhob,
     erkannte sie die schüchterne

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