Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)
aufgetragen hatte. Ein wenig beneidete ich sie darum.
»Woher weißt du das?« Jutta wirkte auf einmal irritiert. Offenbar hatte er ihr alles gesagt. Ich hasste Gunnar. Wahrscheinlich amüsierte er sich, dass ich ihn schamlos kopiert hatte. Der ganze Ausflug war ein Desaster. Ich hätte mich gerne kopfüber in den See gestürzt, befürchtete aber die Konsequenzen.
Während sie noch eine Weile über andere Themen sprachen, besonders im Gedächtnis blieben mir die Worte »Zimmer buchen« und »Konferenzsaal reservieren«, kippte ich den Champagner in mich hinein. Je betrunkener ich wurde, desto fester stand mein Entschluss, es Gunnar heimzuzahlen. Ich merkte, dass ich im betrunkenen Zustand zu Taten fähig wurde, die mich erschreckten. Ja, fast hatte ich den Eindruck, als käme betrunken ein Mann in mir zum Vorschein, den ich lieber nicht kennenlernen wollte. Dennoch konnte ich nicht leugnen, dass mich dieser Mann beeindruckte. Ich sah mich gewissermaßen aus der Perspektive meiner Frau, und das fand ich nun doch etwas seltsam.
Als Jutta das Gespräch beendet hatte, leerte ich den Rest Champagner rasch auf der Wiese.
»Und«, fragte ich nach einer kurzen Pause, »findest du mich jetzt lächerlich?«
Jutta sah mich erstaunt an. »Wieso sollte ich dich lächerlich finden?«
Ich zuckte die Schultern.
»Es ist doch trotzdem eine schöne Idee.« Sie schien es wirklich ernst zu meinen.
»In das Dings da werde ich jedenfalls nicht mehr steigen«, sagte ich, verärgert auf den Ballon deutend.
»Und wie sollen wir dann nach Hause kommen?«
Anscheinend war es ihr sogar ganz recht, nicht weiterzufliegen. Ihr Einverständnis verunsicherte mich. Ich war es nicht gewohnt, mich durchzusetzen.
»Wir gehen zu Fuß zum Auto zurück.«
»Und wenn wir uns verlaufen?«
»Dann fragen wir jemanden. Wir sind ja nicht in Sibirien.«
Leider hatte ich nicht die geringste Ahnung, wo sich unser Auto überhaupt befand.
17
Wir waren zwar nicht in Sibirien, aber so musste Sibirien aussehen, da war ich mir ziemlich sicher. Von menschlichen Ansiedlungen zunächst keine Spur.
Ich war erst mal losgelaufen, um den See herum und dann immer geradeaus. Zwar wusste ich nicht, wohin ich lief, wollte meinen Entschluss aber durch kopfloses Umherirren nicht gleich wieder schwächen. Jutta durfte ruhig mitbekommen, dass ich mühelos zwei Stunden geradeaus laufen konnte.
Bald merkte ich allerdings, dass es mit sturem Geradeauslaufen nicht getan war. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Oder wie sonst war es zu erklären, dass wir bislang keinem einzigen Menschen begegnet waren? Ich erinnerte mich, irgendwann einmal etwas über verlassene Truppenübungsplätze der Roten Armee gelesen zu haben. Befanden wir uns womöglich mitten auf so einem Areal, umgeben von Hunderten scharfer Kampfmittel, die seit Jahren unentdeckt in der Erde schlummerten und jeden Augenblick hochgehen konnten? Ich hatte keine Lust, als letztes Opfer des Kalten Krieges in die Geschichte einzugehen, wollte meiner Frau aber auch nicht den Eindruck vermitteln, ziellos durch die Gegend zu rennen und sie dabei auch noch in Gefahr zu bringen.
Jutta hatte sich unterdessen die Schuhe ausgezogen und lief unbekümmert hinter mir her. Offensichtlich hatte sie den Ernst der Lage noch nicht erkannt. Und obwohl mir der Ernst der Lage auch erst seit wenigen Minuten bekannt war, ließ ich mir die Sorge nicht anmerken. Irgendwie war es ja auch rührend, dass meine Frau so ohne weiteres hinter mir herlief, in der festen Annahme, dass ich den Weg kannte. Schon allein deshalb lohnte sich die Anstrengung. Allerdings begannen allmählich meine Füße zu schmerzen. Ich hatte mir die besten Ausgehschuhe angezogen, die ich besaß, rahmengenähte Budapester, die für ehemalige Truppenübungsplätze jedoch denkbar ungeeignet waren. Denn es waren eben Ausgeh- und nicht Auslaufschuhe. Dieser feine Unterschied wurde mir nun immer deutlicher bewusst. Trotz meiner Schmerzen hatte ich jedoch nicht vor, die Schuhe auszuziehen. Ich wollte, ja ich musste durchhalten, weil ich barfuß nicht so überzeugend wirkte wie mit Schuhen.
Nach kurzer Zeit waren meine Schmerzen nicht mehr zu verheimlichen. Ich fing an zu humpeln. Viel schlimmer war jedoch, dass Jutta mich bald überholt hatte, sodass ich es nun war, der ihr folgte. Zunächst versuchte ich schneller zu gehen und mich wieder an die Spitze zu setzen. Ich schaffte es, zu ihr aufzuschließen, übernahm für einen Moment sogar wieder die
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