Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)
Führung und wechselte daraufhin abrupt die Richtung. Nach wenigen Metern fiel ich jedoch erneut zurück, diesmal, wie es schien, endgültig. Meine Schmerzen waren so stark, dass ich das Gefühl hatte, auf rohem Fleisch zu laufen. Stetig langsamer werdend humpelte ich hinter meiner Frau her. Merkwürdigerweise empfand ich dabei plötzlich Erleichterung, da ich keine Verantwortung mehr trug. Mein Humpeln bescherte mir eine völlig neue Freiheit, die ich zunehmend genoss. Ich stellte mir vor, in Zukunft nur noch zu humpeln. Gemeinsam mit Rentnern, Schwerbeschädigten und Arbeitslosen würde ich zu ermäßigten Preisen in den Zoo oder ins Kino gehen können. Auch in öffentlichen Verkehrsmitteln wäre mir ein Plätzchen in vorderster Reihe gewiss. Ganz zu schweigen von den zahllosen Erleichterungen im täglichen Umgang mit meinen Mitmenschen. In Gesellschaften könnte ich sitzend neue Gäste begrüßen, und in Restaurants bekäme ich automatisch den besten Tisch am Fenster zugewiesen. Meine neu gewonnene Schwäche hatte also eine Menge Vorteile. Das einzige Problem war: Wie sollte ich Jutta erklären, dass ich meine Nachteile zukünftig voll auszuleben gedachte?
Doch das Problem löste sich vielleicht ganz von selbst. Denn als ich nach einigen Minuten versonnenen Vor-mich-hin-Starrens aufblickte, merkte ich, dass ich Jutta verloren hatte.
Ich setzte mich auf einen Baumstumpf und zog mir Schuhe und Strümpfe aus. Meine Füße sahen aus wie nach einem mehrstündigen Gewaltmarsch. An einigen Stellen war die Haut abgelöst. An den Sohlen hatte ich Blasen. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass ich ausgesprochen kleine Füße besaß. Ich glaubte sogar die Füße meiner Mutter wiederzuerkennen. Ich hatte die Füße einer alten Frau. Neben der Vorliebe fürs Dekorieren hatte mir meine Mutter offensichtlich auch ihre Füße vererbt. Und Gerlinde Stämpel schien mir auf diese Weise mitzuteilen, dass ich für derartige Herausforderungen einfach nicht der geeignete Kandidat war. Möglicherweise wäre mir einiges erspart geblieben, wenn ich meine Füße viel früher betrachtet hätte. Aber wer kam schon auf die verrückte Idee, dass einem die eigenen Füße so wesentliche Mitteilungen machen konnten?
Nachdem ich eine Weile ausgeruht hatte, fragte ich mich, wie es jetzt weitergehen sollte. Jutta war wie vom Erdboden verschluckt. In mir regte sich der Verdacht, dass sie extra schneller gelaufen war, um noch einmal in Ruhe mit Gunnar telefonieren zu können. Die Vorstellung empörte mich, aber mir wurde schnell klar, dass sie einen großen Fehler gemacht hatte. Ohne mich war sie aufgeschmissen, denn der Autoschlüssel befand sich in meiner Hosentasche. Allerdings wusste ich auch, dass sie das nicht davon abhalten würde, per Anhalter nach Hause zu fahren, während ich weiter ratlos auf einem Baumstumpf in der Mark Brandenburg saß.
Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass Gunnar irgendwann in unser Haus einzog, als ich auch nach drei Wochen nicht wieder aufgetaucht war. Das durfte unter keinen Umständen passieren. Ich wollte nicht spurlos aus unserem Leben verschwinden.
Die Schuhe um den Hals gehängt, humpelte ich weiter. Langsam bekam ich es mit der Angst zu tun. Außerdem hatte ich Durst. Wenn ich nun nie wieder zurückfand!
Weiter vorne entdeckte ich plötzlich eine Landstraße. Und wo eine Landstraße war, musste es auch Orte geben.
Als ich die Straße erreichte, sah ich Jutta an einer Bushaltestelle sitzen. Mit weit von sich gestreckten Beinen saß sie an einer menschenleeren Bushaltestelle an einer ebenso leeren Landstraße. Sofort fragte ich mich, wer dort ein- oder aussteigen sollte. Ich hatte noch nie eine sinnlosere Bushaltestelle gesehen als diese. Aber meine Frau schien felsenfest davon überzeugt, dass hier irgendwann ein Bus auftauchte.
»Wo bleibst du denn bloß?«, rief sie mir schon von weitem zu. »Das war wirklich eine Scheißidee, zu Fuß zu laufen!«
So wütend hatte ich meine Frau noch nie erlebt. Unsere Beziehung hatte eine völlig neue Qualität bekommen. Noch vor wenigen Wochen wäre es undenkbar gewesen, dass sie sich dermaßen über mich aufregte.
»Wir warten einfach, bis der Bus kommt«, versuchte ich sie zu beruhigen. Dass ich plötzlich den Eindruck erweckte, als glaubte ich wirklich an das baldige Erscheinen eines Busses, ärgerte mich. Ich wusste auch nicht, wie es meiner Frau immer wieder gelang, mich innerhalb von Sekunden vollständig von der eigenen Überzeugung abzubringen.
»Hier kommt
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