Wollust - Roman
es heraus.«
44
Aus Mitternacht wurde ein Uhr morgens. Um halb zwei bog Decker, verausgabt und deprimiert, in die Einfahrt vor seinem Haus ein. Es war offiziell sein Geburtstag, seine Söhne waren von der Ostküste hergeflogen, nur um mit ihm zusammen zu sein, und er war nicht nur fast den ganzen Tag verschwunden gewesen, sondern hatte das ausgerechnet auch noch am Schabbes hingekriegt. Er fragte sich mal wieder, warum er bei der Stange blieb. Verbrechen würden nie verschwinden. Es gäbe für immer und ewig »nur noch diesen einen Fall«, der auf seinen Schultern lastete. Aber die Kehrseite der Medaille sah so aus: Warum sollte man mit dem Arbeiten aufhören, jahrelange Erfahrung mit in die Rente nehmen und dann versuchen herauszufinden, wie man sich nützlich machen kann, wenn man doch sowieso schon nützlich ist?
Er schlug leise die Autotür zu. Rina hatte darauf bestanden, wachzubleiben, er hatte darauf bestanden, sie solle es nicht tun. Wer von ihnen würde der Gewinner dieses kleinen Wettstreits sein? Als er sich der Vordertür näherte, sah er einen großen braunen Umschlag auf der Fußmatte liegen. Er hob ihn hoch. Auf der Vorderseite stand etwas Handschriftliches.
Gabriel Whitman .
Was sollte das denn?
Er steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und betrat das Haus. Rina war in ihren Bademantel gehüllt und wach.
Sie hob den Finger an die Lippen und deutete dann auf die Couch, auf der Gabe ausgestreckt lag und tief und fest schlief. Ein Fuß baumelte über das Sofa hinaus. Sie gingen gemeinsam in die Küche. Decker zeigte seiner Frau den Umschlag. »Das lag vor der Haustür.«
»Als ich vom Revier zurückkam, war er noch nicht da«, sagte Rina. »Den hätte ich bemerkt. Möchtest du einen Kaffee oder Tee?«
»Ein Kräutertee wäre wunderbar. Ich mache ihn mir selbst. Ich bin total aufgedreht und brauche dringend etwas zu tun.« Er füllte den Kessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. Dann öffnete er das Klebeband des Umschlags mit einem Messer, blickte aber nicht hinein. »Wenn es Terry betrifft, würde Gabe das wissen wollen. Ich muss ihn wecken.«
»Also gut. Soll ich hier warten?«
»Nein, ich möchte, dass du als moralische Unterstützung mitkommst.«
Gemeinsam gingen sie zurück ins Wohnzimmer. Decker setzte sich auf den Sofarand, aber selbst das weckte den Teenager nicht. Schließlich legte er dem Jungen eine Hand auf die Schulter und schüttelte ihn sanft. »Gabe.« Noch mal: »Gabe, hier ist Lieutenant Decker.«
Der Junge schoss in die Höhe: »Ich bin wach, ich bin wach.« Er rieb sich die Augen und tastete auf dem Couchtisch nach seiner Brille. Als er sie gefunden hatte, setzte er sie auf. »Ich bin wach.«
»Ich muss das Licht anmachen«, warnte ihn Decker.
»Nur zu.« Gabe blinzelte in das helle Licht. »Was ist los?«
Decker überreichte ihm den Umschlag. »Tut mir leid, dich wecken zu müssen. Das hier lag vor der Haustür, als ich heute Nacht nach Hause gekommen bin. Du möchtest es dir sicher ansehen. Ich habe den Umschlag geöffnet, aber nichts herausgenommen.«
»Was ist das?«
»Ich weiß es nicht.«
Gabe holte in Zeitlupe die Unterlagen hervor. Es war ein ganzer Stapel – irgendeine Bevollmächtigung für seinen Dad und dessen Geschäfte. Dann sah er den handgeschriebenen Brief. Seine Hände begannen zu zittern, als er die Worte zu lesen begann.
Mein allerliebster Gabe,
bis du das hier liest, sollte ich weit weg sein, unerreichbar und in Sicherheit. Mir fehlen die Worte, dir zu erklären, was passiert ist und warum ich das getan habe, aber ich kann dir nur sagen, dass ich wirklich keine andere Möglichkeit mehr sah. Versuche nicht, mich zu finden, und falls Lieutenant Decker nach mir sucht, sag ihm bitte, er soll seine kostbare Zeit nicht darauf verschwenden, mich ausfindig zu machen. Ich bin weg und möchte nicht gefunden werden.
Ich entschuldige mich aus tiefstem Herzen bei dir für das, was ich dir angetan habe, nicht nur für die vergangenen Wochen, sondern die letzten vierzehn Jahre. Du bist so besonders und außergewöhnlich, du verdienst nur Gutes und Glück. Ich hoffe, ich habe dich an einem sicheren Ort zurückgelassen, außer Reichweite des Konfliktes, den deine verrückten Eltern dir untergejubelt haben. Du wirst möglicherweise jetzt meine Beweggründe noch nicht nachvollziehen können, aber ich hoffe, dass ich mich, irgendwann in der Zukunft, wenn du erwachsen sein wirst, mit dir versöhnen und dir erklären kann, was ich getan habe
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