Wollust - Roman
und zog los, um Gabe aus dem Zimmer ihrer Brüder zu holen.
Als sie gegangen war, sagte Decker: »Ich hoffe schwer, das kommt nicht wie ein Bumerang zurück zu uns.«
»Schon möglich«, sagte Rina, »aber selbst Gott beurteilt uns nur nach unserem jetzigen Verhalten und nicht danach, wovon Er weiß, dass wir es in Zukunft tun werden. Wie könnten wir Sterbliche uns also anders verhalten?«
»Das ist eine hübsche kleine Ansprache, aber wir Sterblichen müssen die Vergangenheit benutzen, um die Zukunft einzuschätzen, da wir nicht Gott sind.« Er schüttelte den Kopf. »Welcher Teenager will eigentlich nicht bei seiner jungen, verantwortungslosen Tante wohnen, die gerne feiert und kifft?«
»Ein Teenager, der für sein Alter zu erwachsen ist.«
Er saß auf einem der Betten, seinen Rucksack zu Füßen, und starrte ins Nichts, während andere Leute über sein Schicksal bestimmten. Eine Situation, in der er sich schon x-mal befunden hatte. Das Zimmer war vollgestopft mit Sportpokalen, Taschenbüchern, Comics, CDs und DVDs, fast alle aus den Neunzigern. An der Wand hingen Poster von Michael Jordan und Michael Jackson und eins von Kobe Bryant, als der ungefähr siebzehn war. Bei den CDs gabe es welche von Green Day, Soundgarden und Pearl Jam.
Ein total normales Zimmer in einem total normalen Haus mit einer total normalen Familie.
Was gäbe er nicht alles für ein total normales Leben.
Er war es leid, es mit einem Psychopathen als Vater zu tun zu haben, einem völlig unberechenbaren Irren, der zu Jähzorn neigte. Er war es leid, eine psychologisch niedergeknüppelte Mutter zu haben – zuletzt eine körperlich niedergeknüppelte
Mutter. Er hatte Angst vor seinem Dad, er liebte seine Mutter, aber er hatte sie beide gründlich satt. Und obwohl er seine Musik und das Klavier leidenschaftlich liebte, verabscheute er es, als Wunderkind aufzuwachsen. Es trieb ihn an, immer mehr und mehr und mehr und mehr zu tun.
Dabei wollte er nur ganz beschissen normal sein. War dieser Wunsch denn unerfüllbar?
Er hörte das Klopfen an der Tür und rieb sich die Augen. Beim Blick in den Spiegel sah er, dass sie rot gerändert waren. Was für ein Megascheiß! Das Mädchen hielt ihn bestimmt für ein Weichei.
Mom, wo verdammt noch mal bist du? Chris, was für einen Scheiß hast du mit Mom gemacht?
Er öffnete die Tür. »Hey.«
»Hey.« Sie lächelte. »Also wenn du dich hier ein paar Tage verkriechen willst, bist du herzlich willkommen.«
»Ja, dein Dad hat’s mir schon gesagt. Danke. Das meine ich wirklich so.« Er kaute auf seiner Unterlippe herum. »Bestimmt hat sich die Sache bis dann geklärt. Sag deinen Eltern, dass ich ihnen nicht zur Last fallen werde.«
»Ich bin lästig genug für uns beide.« Sie lächelte wieder. »Ist mir echt unangenehm, dir das zu sagen, aber meine Mom will, dass du mit mir zur Schule mitkommst.«
»Schule ?«
»Nicht auf den Boten schießen!«
»Stimmt.« Er lachte. Was sollte er auch sonst tun? »Klar. Warum nicht?«
»Es ist eine religiöse Schule.«
»Welcher Glaube?«
»Jüdisch.«
»Ich bin katholisch.«
»Kein Problem. Du wirst nichts tun müssen, das deinem Glauben entgegensteht.«
»Ich glaub an nichts außer an das angeborene Böse im Menschen.« Er sah sie an. »Deine Eltern mal ausgenommen.«
»Wenn dir das alles zu viel ist, kann ich es meiner Mutter wahrscheinlich ausreden.«
»Nein, geht schon klar.« Eine Pause. »Brauch ich ein Schulheft oder so was?«
»Ich hab noch eins übrig. Du bist in der zehnten Klasse, hast du gesagt?«
»War ich.«
»Algebra zwei oder drei?«
»Drei.«
»Ich kümmere mich darum. Ich habe auch gehört, dass du Klavier spielst?«
In seinen Augen blitzte ein Funken Interesse auf. »Habt ihr ein Klavier?«
»Meine Schule schon. Bist du gut?«
Zum ersten Mal sah Hannah ihn aufrichtig lächeln. »Ich kann spielen.«
»Dann darfst du ja vielleicht nach der Schule dableiben und unseren Chor begleiten. Wir sind wahnsinnig schlecht und bräuchten mal ein Erfolgserlebnis.«
»Ich werd mich nützlich machen.«
»Also los.« Sie winkte zum Aufbruch. »Ich schleuse dich da durch. Vielleicht weißt du es noch nicht, Gabe, aber hier steht eine große Nummer der Schule vor dir.«
6
Bis etwa zur Mittagspause hatte Decker genug Telefon- und Beinarbeit erledigt, um sich zu vergewissern, dass es seit vier Uhr des gestrigen Nachmittags keine Aktivität mehr auf Terry McLaughlins Handy gegeben hatte. Ihre üblichen Kreditkarten waren mit Ausnahme
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