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Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)

Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)

Titel: Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz W. Werner
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Menschenbild, das ich auch im Unternehmen so oft entdeckt habe. Ich bin fleißig und verantwortungsbewusst und gut; alle anderen sind faul und verantwortungslos und böse. Ich bin ein guter Autofahrer, alle anderen nicht. Ich stehe im Stau, den die anderen verursachen. Alle sind billige Touristen, nur ich bin anspruchsvoll reisender Gast. Ich bin der einzige ehrliche Dumme, während um mich herum alle raffiniert lügen und betrügen. Und so weiter und so fort.
    Es ist offenbar sehr schwer, den Mitmenschen genauso viel Verstand, so viel Herz, so viel Anstand zuzutrauen, wie man für sich selbst in Anspruch nimmt. Ich erinnere mich daran, wie wir in unserer Geschäftsleiterkonferenz zusammensaßen und darüber diskutierten, ob wir das Risiko eingehen könnten, das das Konzept »Filialen an die Macht« mit sich brachte. Würden die Filialleiter dasselbe können, was wir bislang in der Zentrale gemacht hatten? Wären sie nicht überfordert mit all den Entscheidungen? Würden sie nicht vielleicht die größeren Spielräume ausnutzen? Keiner hat das laut so gesagt, aber insgeheim hatten wir vermutlich alle solche Gedanken im Kopf: »Ich bin der Größte. Keiner kann das so gut wie ich. Wenn das jemand anderes machen soll, bricht alles zusammen. Mir kann man vertrauen, aber den anderen nicht.«
    Solche Gedanken muss man zuerst einmal sich selbst eingestehen. Man will ja kein Misanthrop, kein Menschenverächter sein. Aber beobachten Sie sich mal aufmerksam beim Denken. Schalten Sie das Radio aus und hören Sie sich selbst zu, was da in Ihrem Kopf so los ist, wenn Sie über andere Menschen nachdenken. Und dann überlegen Sie, was passieren würde, wenn Sie sich das Menschenbild, das wir im Grundgesetz Artikel 1 festgeschrieben haben, wirklich und zutiefst zu eigen machen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Was würde passieren, wenn Sie jedem Menschen seine Würde lassen würden?
    Jeder Mensch hat ein Recht zu leben. Das ist die Grundüberzeugung. So steht es in unserer Verfassung. Oft sind Dinge schon da, aber werden noch gar nicht begriffen. Die Erde ist rund, aber es brauchte Kopernikus, um das zu begreifen.
    Welche Verhältnisse müssen geschaffen werden, damit die Würde des Menschen nicht angetastet wird? Er braucht ein Dach über dem Kopf und ausreichend Nahrung. Er braucht ein Einkommen. Deswegen gibt es den Steuerfreibetrag, um anzuerkennen, dass der Mensch von etwas leben muss. Deswegen gibt es Hartz IV. Der Unterschied? Hartz IV ist ein bedingtes Grundeinkommen. Man verliert verschiedene verfassungsrechtlich zugesicherte Grundrechte: Mit der Würde ist es vorbei! Freie Arbeitsplatzwahl, damit ist es vorbei! Artikel 12, der Zwangsarbeit verbietet, damit ist es vorbei! Und auch mit der Reisefreiheit ist es vorbei! Aber das stört unsere Verfassungsrichter leider überhaupt nicht. Offenbar können selbst sie den Artikel 1 unserer Verfassung nicht konsequent zu Ende denken.
    Es ist wie bei den Arbeitern im Weinberg, einem Gleichnis aus der Bibel, Matthäus 20,16: Da stellt ein Weinbauer am frühen Morgen einige Männer ein, die ihm bei der Arbeit helfen sollen, und vereinbart mit ihnen einen Tagelohn von einem Denar. Drei Stunden später geht er wieder auf den Markt, engagiert weitere Arbeiter und verspricht ihnen wieder einen Lohn von einem Denar. Genauso tut er es am Mittag, am Nachmittag und ein letztes Mal kurz vor dem Abend. Jedes Mal vereinbart er einen Denar Lohn. Da beschweren sich die Arbeiter aus den frühen Morgenstunden, das sei ungerecht. Schließlich hätten sie für den Denar viel länger arbeiten müssen als die Männer, die erst später ihre Arbeit begonnen hätten. Der Weinbauer widerspricht: Sie hätten morgens diese Bezahlung vereinbart, und so sei es gerecht. Außerdem sei es sein Geld, und er könne damit machen, was er wolle.
    Die meisten Menschen kennen das Zitat, das in diesem Zusammenhang fällt: » So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten. « Aber den Kern des Gleichnisses muss man sich erst erschließen. Worum geht es? Theologen sagen oft, der Weinbauer sei Gott und die Arbeit am Weinberg sei der Glaube. Und ganz egal, wann man zu seinem Glauben findet, Gott würde jedem dieselbe Liebe zuteil werden lassen. Sozialwissenschaftler bleiben lieber bei den harten Fakten und erklären, dass ein Denar genau das sei, was ein Mensch damals brauchte, um einen Tag leben zu können. Der Weinbauer habe also jedem Arbeiter, unabhängig von der Arbeitszeit, einfach ein

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