Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)
wenn sie am Ziel angekommen ist.
Heute, wo wir uns fremdversorgen, dürfen wir nicht mehr fragen: Was hast du geerntet? Das wäre die Einkommenssteuerfrage. Stattdessen müssen wir fragen: Was hast du entnommen, was willst du konsumieren? Das ist die Konsumsteuerfrage.
Wenn wir alle Selbstversorger wären, ginge es uns genauso dreckig wie vor 300 Jahren. Tiere sind Selbstversorger. Wenn es abends dämmerig wird, geht die Löwenfamilie an die Wasserstelle, trinkt und wartet dann still im Gebüsch. Irgendwann nähern sich etwa 500 Zebras. Wenn sie nahe genug sind, gibt der Löwenvater das Signal, und die Löwenmutter springt los. Zwei, drei Zebras werden gerissen und von den Löwen verspeist. Wenn auf diese Weise die Löwenfamilie versorgt ist, geht der Rest der Zebraherde ganz gelassen ans Wasser und säuft. Ihm droht keine Gefahr mehr. Man stelle sich vor, die Löwen wären Fremdversorger und lebten in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Nun wäre kein Zebra mehr sicher. Dann bräuchte der Löwe ein Kühlhaus und Lastwagen, um das viele Zebrafleisch in die Welt zu transportieren.
Die Arbeitsteilung hat uns produktiver gemacht. Deswegen haben wir mehr Waren, als wir verbrauchen können. Deswegen konnten wir nach der Wiedervereinigung, ohne auch nur eine zusätzliche Fabrik zu bauen, relativ problemlos 18 Millionen Ostdeutsche mit Gütern versorgen. Wir waren noch nie so reich wie heute. Denn wir sind in der Lage, genügend Güter und Dienstleistungen hervorzubringen. Deswegen sprechen wir auch von der Überflussgesellschaft. Die Frage, die sich dadurch stellt, ist, ob es uns gelingt, die gemeinsam geschöpften Werte brüderlich, also gerecht, zu verteilen.
Das ist die Schlüsselfrage unserer Gesellschaft. Und die ist gleichbedeutend mit der Einkommensfrage. Sicherzustellen, dass der Mensch bescheiden, aber menschenwürdig im Sinne des Artikel 1 unserer Verfassung »Die Würde des Menschen ist unantastbar« leben kann. Ebenso wie der Einzelne ein Einkommen benötigt, um arbeiten zu können, braucht auch die Gemeinschaft ein Einkommen. Und das ist die eigentliche Steuerfrage.
In der Beschäftigung mit dem Thema Konsumsteuer haben wir uns sehr engagiert. 1989 organisierten wir einen internationalen Konsumsteuerkongress an der Universität in Heidelberg, bei dem unglaubliche viele Koryphäen der Finanzwissenschaften mitwirkten, darunter auch Nobelpreisträger.
James McGill Buchanan zum Beispiel, der seine gesamte Forschungsarbeit der Politischen Ökonomie und der Frage gewidmet hat, wie man der Wirtschaftswissenschaft ihre gesellschaftspolitische Bedeutung zurückgeben könne, und der die sogenannte Public-Choice-Theorie entwickelte. Auch Richard Abel Musgrave war dabei, der die amerikanischen Präsidenten Kennedy und Johnson beraten hat. Er beschäftigte sich mit dem Phänomen des Marktversagens und stellte fest, dass es Güter gibt, die einen größeren Nutzen stiften könnten, als sich in der in freier Marktwirtschaft bestehenden Nachfrage widerspiegelt, sogenannte meritorische Güter. Er trug auf dem Kongress zahlreiche Argumente für den Konsum als Steuerbemessungsgrundlage vor.
Die amerikanischen Steuerexperten Charles E. McLure und George R. Zodrow verglichen in ihrem Vortrag die Vor- und Nachteile der Einkommens- und der Konsumsteuer miteinander, bedachten dabei sogar Aspekte wie Schenkungen und Erbschaften. Ergebnis: Konsumsteuer ist einfacher und effektiver. David Bradford , einer der berühmtesten amerikanischen Finanzwissenschaftler und Steuerexperten, plädierte wie so oft in seinen Publikationen auch in Heidelberg energisch dafür, zu besteuern, was die Menschen ausgeben, nicht, was sie einsparen. Aus Deutschland beteiligten sich so namhafte Experten wie Wolfram F. Richter , Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen, sowie Dieter Pohmer und Wolfgang Wiegard , die beide jahrelang zu den fünf Wirtschaftsweisen zählten. Die Liste der Befürworter einer Konsumsteuer, die sich in Heidelberg zusammenfanden, ließe sich noch lange fortsetzen.
Die Wissenschaft ist in dem Punkt Besteuerung schon sehr viel weiter als die Politik – und erst recht als wir einfachen Verbraucher. Wir stehen vor der Aufgabe, ein gesellschaftliches Bewusstsein für diese geschichtliche Veränderung von der Selbst- zur Fremdversorgerwirtschaft zu entwickeln. Es ist ähnlich wie die kopernikanische Wende. Erst als die Menschen denken konnten, dass die Erde rund ist und nicht im Mittelpunkt steht,
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