Wood, Barbara
Mann, der da auf der anderen Seite
saß, nur ein paar Schritte von ihr entfernt. Jamie O'Brien. Was war an ihm dran, das sie derart zu fesseln schien? Seit
jener ersten Begegnung, nachts, in Lulu Forchettes mondlichtbeschienenen
Garten, hatte sie sich von O'Brien merkwürdig verzaubert gefühlt. Jedes Mal,
wenn sie an ihn gedacht hatte und erst recht, als sie ihm am Zeitungskiosk
erneut begeg net war, hatte sie
sich, ohne sagen zu können, warum, zu ihm hingezogen gefühlt. Und dieses Gefühl
wurde zusehends stärker. Wie war das möglich? Wo sie doch Neal liebte und mit
ihm den Rest ihres Lebens verbringen wollte ...
Es schien
ihr immer schwerer zu fallen, nicht an Jamie O'Briens Augen zu
denken, an sein verwegenes Lächeln und an die etwas krumme Nase, daran, wie
spöttisch er über seine Verletzung hinwegging und lieber witzige Geschichten
um Treiber und Schafscherer erzählte oder davon, wie raffiniert er es
anstellte, arglose Bürger um ihr Geld zu erleichtern.
Sie wandte
sich wieder Neals Fotografie zu. »Sollte es bei Mr. O'Brien zu Wundbrand
gekommen sein«, sprach sie leise auf das Bild ein, während draußen die Rufe und
das Gelächter der Männer zum dunkler werdenden Himmel emporstiegen, »dann habe
ich das mir anzukreiden. Ich sehe ein, dass es voreilig von mir war, die Wunde
mit Jodtinktur zu behandeln. Ich habe durchaus in Erwägung gezogen, dass Jod,
wenn es Mikroben abtötet, auch lebendiges Fleisch abtöten kann. Vielleicht
hätte ich es doch lieber nicht verwenden sollen? Möglicherweise habe ich damit
nicht nur Mikroben abgetötet, sondern auch die Gefäße und Nerven, die das
Gewebe von Mr. O'Briens Wunde
versorgen. Aus abgestorbenem Fleisch entsteht Wundbrand, und wenn es dazu
gekommen ist, ist das meine Schuld.«
»Hallo, da
drin!«, bellte Michael Maxberry vor dem Zelt. »Essen ist fertig!«
Nan hatte ein paar Eidechsen gefangen, und Bluey Brown war es gelungen,
mit seiner Muskete ein einsames Wallaby, ein
kleines Känguru, zu erlegen, weshalb es zum Abendessen frisches Fleisch gab.
Ein fröhliches Mahl wurde es allerdings diesmal nicht. Im Gegensatz zu sonst,
wo man beim Essen ausgelassen gewesen war und Pläne geschmiedet hatte, was man
mit dem Schatz, den man hier draußen finden würde, alles anzustellen gedachte,
konzentrierte sich heute jeder auf das, was auf seinem Blechteller lag, saß
mit gekrümmtem Rücken und in sich gekehrt um das Feuer herum, wie um die
Existenz der Sterne nicht zur Kenntnis zu nehmen, die endlose Wüste und den
möglichen Tod von Jamie O'Briens rechtem
Bein.
Church erkundigte sich nach Stinky Sam, wunderte
sich darüber, wo »der alte Drecksack« abgeblieben sein mochte, um gleich
darauf rot anzulaufen und sich brummelnd bei Hannah zu entschuldigen.
»Hat sich
wohl verlaufen«, meinte Maxberry und stocherte im Feuer herum, dass die Funken
aufsprühten.
Hannah war
längst nicht mehr nach Essen zumute. Sie verließ den Kreis, um nach ihrem
Patienten zu sehen, der, die Beine ausgestreckt, an einem Felsbrocken lehnte.
Sie ließ sich neben ihm auf dem Sandboden nieder, schlug ihre Röcke unter sich
und zog sich den Schal fest um die Schultern. In einiger Entfernung hockten elf
Männer und eine Aborigine um das
Feuer herum. Die Pferde waren an den Wagen festgemacht, zwischen denen Maxberry
und Church ein mit Pfannen und Besteck
bestücktes Seil gespannt hatten; sobald es schepperte, war dies ein Zeichen,
dass sich Dingos herumtrieben, obwohl man seit Tagen nichts weiter gesehen
hatte als hin und wieder ein Känguru oder ein Wallaby.
»Mr.
O'Brien, hätten Sie etwas dagegen, wenn wir den Verband erst morgen früh
abnähmen? Ich würde mir die Wunde lieber bei Tageslicht anschauen.«
»Wann
immer Sie wollen«, grinste er.
»Haben Sie
Angst?«
»Vor
Wundbrand?« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich morgen sterbe, hab ich ein
schönes Leben gehabt. Und wenn Petrus mich nicht durch seine Himmelspforte
einlässt, dann schleich ich mich einfach um den Zaun rum und schlüpf durch ein Loch.« Zerstreut rieb er sich die Narben an
seinem linken Handgelenk. »War nicht das erste Mal, dass ich die Obrigkeit an
der Nase herumführe.«
»Mr.
Maxberry hat mir erzählt, dass Sie beide sich in einer Strafkolonne
kennengelernt haben.«
Jamie lachte leise auf. »Ich zog mal den Snowy-Fluss lang, und da begegnete
mir ein Kerl, der auf Känguruhäute aus war. Ich sagte ihm, ich hätte
zweihundert davon, schöne rote, mit Ohren und Schwanz und allem, und nannte
ihm einen Preis.
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