Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wood, Barbara

Wood, Barbara

Titel: Wood, Barbara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieses goldene Land
Vom Netzwerk:
sie auf der Suche nach ihr in den Gängen
herumgeirrt war und zwangsläufig grässliche, das heißt für ein kleines Mädchen
unfassbare Dinge gesehen hatte - ausgemergelte Körper, Unmengen von Blut,
Leichen - und sich daraufhin ihre eigenen Schreie in die der Kranken gemischt
hatten. Sie wusste nur noch, dass irgendwann jemand sie hochhob, und dann
hatte sie die Arme der Mutter um sich gespürt. Seither hatte Blanche immer
wieder versucht, die schrecklichen Erinnerungen daran zu vergessen, aber jetzt,
da sie vor dem Hospital von Marcus Iverson stand, überfielen sie diese Bilder
erneut und mit aller Macht.
    Ich bringe es einfach nicht über mich.
    Niemals
werde ich wissen, wozu ich tatsächlich fähig bin, wenn ich nicht meine Ängste
besiege, sagte sie sich dann, als sie sah, wie Alice und Margaret und Martha
mit ihren Paketen bereits zielstrebig die Stufen zum Eingang hinaufstiegen.
    Sie
richtete sich auf, atmete mehrmals tief durch und kletterte aus der Kutsche,
folgte den Freundinnen Stufe um Stufe die Treppe hinauf, inständig hoffend,
das durchzuhalten, ohne ohnmächtig zu werden. Oben angelangt, verharrte sie
abermals wie angewurzelt, unfähig, auch nur einen Schritt weiterzugehen,
während die drei anderen längst durch die Türen entschwunden waren.
    Wohltätig
zu handeln, gehörte zu Blanches vorrangigen
Leitsätzen; es war eine Überzeugung, die ihr von klein auf beigebracht worden
war. Schon ihre Mutter war für ihre Nächstenliebe und selbstlose Großzügigkeit
bekannt gewesen, und Blanche hatte es sich zu eigen gemacht, diese Tradition
fortzusetzen. Aber nun, da sie davor stand, es mit ihrer größten Angst
aufzunehmen, wurde ihr bewusst, dass wohltätig zu sein, wenn es darum ging,
Tanzveranstaltungen zu organisieren, Picknicks und Kunstausstellungen
auszurichten, einfach war. Wirklich wohltätig - war sie das eigentlich jemals
gewesen? Jetzt jedenfalls galt es, wahre Nächstenliebe unter Beweis zu stellen
- sich um die zu kümmern, die in diesem Gebäude in Bedrängnis waren.
    Sie dachte
an ihre Mutter, dachte daran, was sie für sich selbst ersehnte, nämlich etwas
zu finden, was ihr Leben erfüllte, und sie dachte auch an Marcus Iverson, dem
sie eine Erklärung schuldete, warum sie bislang das Hospital, das ihm so sehr
am Herzen lag, nicht betreten hatte. Blanche atmete nochmals tief durch,
straffte die Schultern und griff nach dem Türknauf.
     
    Hannah war
im Begriff, die Notizen ihres Vaters und die Objektträger wieder einzusammeln,
als sie kurz in die Eingangshalle schaute und ein wohlvertrautes Gesicht durch
die Haupttüren kommen sah. »Alice!«, rief sie.
    Sie ließ
alles stehen und liegen und rannte der Freundin entgegen, hinter der jetzt zu
ihrer Überraschung auch noch Margaret Lawrence eintrat. »Was macht ihr beiden
denn hier?«
    »Wir vier«, berichtigte Alice, denn inzwischen war auch Martha
Barlow-Smith aufgetaucht und zu Hannahs Verblüffung
kurz darauf Blanche. »Als wir deine Nachricht mit der Absage zum Mittagessen
erhielten«, sagte Alice, »und du durchblicken ließest, dass du mit den vielen
Patienten allein bist, stand für Blanche und mich fest, dass wir etwas tun
mussten, um dir zu helfen. Und dann waren Margaret und Martha nicht davon
abzubringen, ebenfalls mitzukommen.«
    In diesem
Augenblick trat Dr. Iverson aus seinem Sprechzimmer. Er meinte seinen Augen
nicht zu trauen, als er in der Eingangshalle die vier Besucherinnen erblickte.
Er erkannte Alice und ihre Begleiterin und neben ihnen Martha Barlow-Smith,
eine füllige Dame der oberen Gesellschaft, deren Korsettstangen unter dem Mieder
ständig knackten. Und dann fiel sein Blick auf die vierte Person in der Gruppe.
    Blanche,
eine Hand auf den Busen gepresst, schien an der Tür innezuhalten, sich
hilfesuchend nach allen Richtungen umzuschauen. War sie krank? Marcus eilte
auf sie zu und bemerkte beim Näherkommen, dass ihr Gesicht kreidebleich war und
sie überhastet atmete. »Mrs. Sinclair«, sprach er sie an, »Blanche, fehlt Ihnen
etwas?« Er sah ihre Begleiterinnen fragend an.
    »Sie
bestehen darauf, uns zu helfen«, erklärte Hannah.
    Er musterte
Blanche. »Sie scheinen sich nicht wohlzufühlen«, sagte er und fasste sie am
Ellbogen. »Kommen Sie mit in mein Sprechzimmer.«
    Blanche
konnte kaum noch atmen. In diesem Hospital roch es genauso wie in dem aus ihrer
Kindheit - nach Rauch und Chlor und Erbrochenem. Ein Patient hinkte mit Hilfe
von Krücken vorbei, ein anderer hockte auf einem Stuhl, den Arm in

Weitere Kostenlose Bücher