Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
hochgezogen, die Beine an die Brust gepreßt. Neben ihr lag Walter, flach ausgestreckt auf einer Lawine von Kinderbüchern. Er war eingeschlafen – mit weit aufgesperrtem Mund und halbgeschlossenen Lidern –, und sie las ihm vor. Völlig abwesend. Ihre Stimme war ein monotoner Singsang. »Hans Herrje trank keinen Tee«, las sie, »doch seine Frau wollt’ keinen Kakao.«
    »Christina?«
    Christina blickte auf. In den letzten sechs Stunden hatte sie jedes Märchen und jedes Kinderlied, die im Haus zu finden waren, vorgelesen. Aschenputtel, Schneewittchen, Rumpelstilzchen, sie alle lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende. Babar, Alice und ihr Wunderland, der verwunschene Prinz, glücklich bis an ihr Lebensende. Und von einem Hans zum nächsten – Hans Liederlich, Hans im Glück, Gretels Hänsel – und dann Humpty Dumpty, das tapfere Schneiderlein und der standhafte Zinnsoldat. »Haben sie ihn schon gefunden?« fragte ihre Mutter.
    Langsam und ehrfürchtig, als wäre es Teil eines Rituals, schloß Christina das Buch in ihrem Schoß. Direkt vor ihr stand ihre Mutter, sonnengebräunt nach einem Monat Urlaub am Kieselstrand des Lake St. Catherine, mit neuer Frisur und einer Miene gewohnheitsmäßiger Besorgnis. Wen gefunden? Viel wichtiger war doch das Schicksal des armen Zinnsoldaten.
    Die Stimme der Mutter drang erneut zu ihr durch. »Geht es ihm gut?«
    Sie sah ihrer Mutter ins Gesicht, in das Gesicht, das ihr Sonne und Mond gewesen war, Trost und Zuflucht, seit sie hilflos in der Wiege gelegen hatte, das Gesicht, das all diese scheußlichen anderen Gesichter besiegen hätte können, die in den Schatten waberten und durch ihre Träume spukten, aber sie konnte an nichts anderes denken als an den armen Zinnsoldaten, der sich aus lauter Liebe zu der schönen Tänzerin ins Feuer stürzt. »Sie haben ihn gefunden«, sagte sie schließlich.
    Ihre Mutter ballte unbewußt die Hände zu Fäusten, man hörte das Knirschen eines zweiten Wagens auf der Auffahrt, und Walter murmelte irgend etwas im Schlaf. »Sie haben ihn gefunden«, wiederholte Christina. Eine Autotür knallte zu. Sie konnte die Schritte ihres Vaters auf den Steinen, auf der Veranda hören, sie sah durch das Fliegennetz der Eingangstür sein besorgtes Gesicht.
    »Ja?« fragte ihre Mutter nach.
    »Ja«, sagte sie. »Er ist tot.«
    Tot war er nicht, aber das wäre besser gewesen. Bei Einbruch der Nacht hatten die Alvings die Gerüchte gehört – sowohl Heshs Version wie auch die von Lola, von Lorelee Shapiro und Rose Pollack –, und Christina, die der Länge nach auf ihrem alten Kinderbett ausgestreckt lag wie ein zum Balsamieren bereiter Leichnam, gestand schließlich die Wahrheit. Truman hatte sie verlassen. Hatte sie erst beim Konzert schutzlos zurückgelassen, sie anschließend zwei qualvolle, schlaflose Tage und Nächte lang allein gelassen und schließlich seine Sachen gepackt, um sie für immer im Stich zu lassen. »Ich kann es nicht glauben«, sagte ihre Mutter. Ihr Vater stand auf. »Ich bringe ihn um«, sagte er.
    Am nächsten Wochenende war das zweite Konzert, das im Schatten der Niederlage ein Riesentriumph wurde, und auf den August folgte der September mit den letzten warmen Tagen und den verirrten Schmetterlingen, mit jener Fülle, die vor dem Zerfall kommt. Als die Blätter gelb wurden, hatte Christina zehn Kilo abgenommen. Zum erstenmal seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr wog sie weniger als fünfundvierzig Kilo, und ihre Mutter machte sich Sorgen. »Iß«, sagte sie, »du fällst ja völlig vom Fleisch. Vergiß ihn endlich. Vergiß ihn, und iß etwas. Du mußt bei Kräften bleiben. Denk an Walter.«
    An Walters Zukunft dachte sie. Am ersten Oktober, als ihre Mutter einmal nicht da war, traf sie sich mit einem Rechtsanwalt aus Yorktown und sorgte dafür, daß im Falle ihres Todes die Vormundschaft für Walter seinen Pateneltern übertragen würde. Die Aufforderungen ihrer Mutter hatten für sie keine Bedeutung. Essen? Ebenso hätte man ihr sagen können, sie solle fliegen. Man aß, um sich zu stärken, um Zellen zu erneuern, um Knochensubstanz, Muskeln und Fettgewebe aufzubauen, um zu leben. Sie wollte nicht mehr leben. Sie hatte keinen Hunger. Fleisch ekelte sie an, Essensgeruch war ihr ein Greuel, Obst stieß sie ab und von Gemüse wurde ihr schlecht. Milch, Brot, Reis, Haferflocken, sogar Kartoffelpuffer – all das war Gift in ihren Augen. Ihre Mutter machte ihr Pudding, Krapfen, Zabaglione, sie kam mit einem Tablett mit

Weitere Kostenlose Bücher