Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Barock bis Klassik
sechs Geschwistern war ihm die Stiefschwester Ulrike – sie stammte aus der ersten Ehe des Vaters mit Karoline Luise von Wulffen – zeitlebens die liebste. Der umfangreiche Briefwechsel mit ihr zählt zu den wichtigsten Quellen der kleistschen Biografie. Der Junge dürfte seinen ersten Schulunterricht weitgehend von dem Theologen Christian Ernst Martini erhalten haben. Allzu viel Bildung schien im Übrigen nicht nötig, war ihm doch aufgrund der Familientradition die Militärlaufbahn vorbestimmt. Folgsam trat Kleist im Sommer 1792 ins königliche Heer ein. Ein Jahr später nahm der 16-Jährige schon mit dem preußischen Garderegiment während des Rheinfeldzugs an der Belagerung von Mainz teil. Seiner Karriere stand nichts im Weg. Der Spross dieser alten und ruhmreichen preußischen Offiziersfamilie hatte beste Beziehungen zum Hof, seine Cousine Marie von Kleist war Hofdame der Königin Luise, er selbst verkehrte mit dem Staatsmann Karl August Freiherr von Hardenberg und dem Feldherrn Gneisenau. Die Beförderung ließ folglich nicht lange auf sich warten, Kleist stieg zunächst zum Portepeefähnrich, dann zum Sekondeleutnant auf. Doch trotz solch steiler Karriere empfand Kleist das soldatische Leben als zunehmend widerwärtig. Schließlich ertrug er es nicht mehr und quittierte 1799 den Dienst. Noch zweimal sollte seine Laufbahn nach diesem Schema verlaufen – versuchter Eintritt in den Staatsdienst – dann im zivilen Sektor – und Aufgabe des sicheren, bezahlten Postens. Kleist spielte ein gefährliches Spiel mit seinen Lebensplänen und den Zielen, die er anstrebte – ihr Scheitern wirkt fast einkalkuliert.
›Unsere äußeren Schicksale interessieren die Menschen, die inneren nur den Freund.‹
Heinrich von Kleist
HEIKLE FRAGEN
Am 7. Mai 1799 schrieb Kleist einen Brief an die Stiefschwester Ulrike, in dem er sich über die sieben »verlorenen Jahre« in der Armee beklagt. Das Schreiben hatte er in Frankfurt an der Oder aufgegeben, wo er sich kurz vorher an der Universität für die Fächer Mathematik, Physik und Philosophie immatrikuliert hatte. Was versprach er sich davon? Eine Orientierung im Sinne des Bildungsbürgertums? Die Vorbereitung auf einen Brotberuf vermutlich nicht, obwohl ein solcher eigentlich nötig gewesen wäre, angesichts der Tatsache, dass sein kleines eigenes Vermögen und sogar ein Teil des schwesterlichen Vermögens bereits verbraucht war. Eher schwebte ihm wohl mit dem Studium ein erster Schritt in Richtung jenes vagen Ziels vor, das Kleist seinen »Lebensplan« nannte. Wie ein pedantischer, dabei zwischen Optimismus und Pessimismus schwankender Buchhalter schrieb er darüber an Ulrike: »Was der Reiseplan dem Reisenden ist, das ist der Lebensplan dem Menschen … Ohne Lebensplan leben, heißt vom Zufall erwarten, ob er uns so glücklich machen werde, wie wir es selbst nicht begreifen. Ja, es ist mir so unbegreiflich, wie ein Mensch ohne Lebensplan leben könne, und ich fühle an der Sicherheit, mit welcher ich die Gegenwart benutze, an der Ruhe, mit welcher ich in die Zukunft blicke, so innig, welch ein unschätzbares Glück mir mein Lebensplan gewährt, und der Zustand ohne Lebensplan …, immer schwankend zwischen unsichern Wünschen, immer in Widerspruch mit meinen Pflichten, ein Spiel des Zufalls, eine Puppe am Drahte des Schicksals – dieser unwürdige Zustand scheint mir so verächtlich …, daß mir der Tod bei weitem wünschenswerter wäre.« So kalkuliert diese Äußerung klingt, so wenig kann sie verschleiern, dass Kleists Lebensplan letztlich rätselhaft bleibt und stets ins Dunkle und Unerklärte führt. Seine komplizierten Beziehungen zu Frauen trugen ihren Teil dazu bei.
Am Studienort hatte Kleist Wilhelmine, eine Tochter des Generalmajors von Zenge, kennen gelernt. Rasch folgte die Verlobung. Eine recht eigenartige Verbindung – Kleist stellte seiner Braut regelmäßig Denkaufgaben, die diese nach seinen Instruktionen lösen musste. Solch schulmeisterliche Intellektualität hatte offenbar als Ersatz für echte Liebe herzuhalten.
Im September 1800 unternahm Kleist eine äußerst rätselhafte Reise nach Würzburg, über die er nur Andeutungen machte. Sollte ihm, so eine der vielen Vermutungen, eine Phimoseoperation seine Manneskraft garantieren und den Weg in die Ehe ebnen? Folgte er einem geheimen Spionageauftrag eines preußischen Ministeriums? Oder wollte er ganz einfach zu sich selbst und zu seinem »Lebensplan« finden, der ihm immer stärker vom Dichterberuf
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