Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Barock bis Klassik
sprach?
DIE FLUCHTREISEN
Kleist suchte seinen Platz im Leben und ahnte vielleicht schon, dass er ihn nur schwer oder gar nicht finden würde. In dieser Stimmung setzte er sich mit Immanuel Kants »Kritik der reinen Vernunft« auseinander. Offenbar war er jedoch den erkenntniskritischen Folgerungen dieser Philosophie geistig nicht gewachsen. Ob man diesbezüglich von einer intellektuellen Erschütterung sprechen darf, ist strittig, ohne Zweifel aber kam durch diese Erfahrung Kleists Konzept eines Lebensplans ins Wanken. Das zeigte sich auch dadurch, dass er sich eben jetzt, als er seine Berufung zum Dichter deutlich spürte, in eine ganze Reihe von Reisen stürzte, die durchaus als Fluchten interpretiert werden können: 1801 nach Dresden, wo ihn der katholische Gottesdienst und die Kirchenmusik faszinierten, und weiter nach Paris, der im Zeichen Napoleons stehenden Weltstadt, die ihn zwar abstieß, in der er aber an seinem ersten Schauspiel, der »Familie Schroffenstein«, ferner am Drama »Robert Guiskard, Herzog der Normanner« und an der Erzählung »Verlobung in St. Domingo« (mit einer glutvollen Schilderung von Liebesnacht und Liebestod) zu arbeiten begann. Schließlich besuchte Kleist die Schweiz, wo er im Frühjahr 1802 nach Thun ging und ein Häuschen auf der Delosea-Insel in der Aare mietete, um Bauer zu werden. Offenbar hatte ihn die Mode der Zeit gepackt, das »Zurück zur Natur«, das der französische Aufklärungsphilosoph Jean-Jacques Rousseau als Schlagwort in die Welt gesetzt hatte. In der Schweiz, genauer gesagt während eines Aufenthalts in Bern 1802, entwickelte Kleist sodann die Idee zu seiner Komödie »Der zerbrochene Krug«, die er allerdings erst 1806 in Königsberg vollendete: Die geradezu schöpferische Einfallskraft, die der zweifelhafte Held des Stücks, der Dorfrichter Adam, beim Lügen produziert, macht dessen Gestalt zur wohl eindringlichsten deutschen Lustspielfigur.
»DIE HERMANNSSCHLACHT«
Als einen vaterländischen Beitrag wollte Kleist das agitatorische Schauspiel »Die Hermannsschlacht« verstanden wissen. Am 1. Januar 1809 hatte er es dem österreichischen Schriftsteller Heinrich Joseph von Collin zugesandt mit der Bitte, sich für eine Aufführung des Stückes, das, wie Kleist an Collin schrieb, einzig und allein auf diesen Augenblick berechnet war«, bei der k.u.k. Theaterdirektion in Wien einzusetzen. Doch gerade die politische Aktualität des Stückes, das schließlich 1821 in den »Hinterlassenen Schriften« erschien, machte eine Aufführung unmöglich.
Der germanische »Widerstandskämpfer« Hermann – Armin der Cherusker – war als Symbol für den Widerstand gegen Napoleon zu verstehen. Die Römer standen für die Franzosen, während unschwer zu verstehen war, dass die Cherusker im Grunde eine Chiffre für die Preußen darstellten. Kleists Hass auf den französischen Kaiser führte dazu, dass dem Stück die Differenziertheit in der Personendarstellung weitgehend abgeht, sodass es von der Kritik heute meist eine Ausnahmestellung im dichterischen Werk Kleists zugewiesen bekommt.
Nie mehr wolle er nach Deutschland zurückkehren, schrieb Kleist aus der Schweiz an seine Braut und löste die Verlobung auf. Wilhelmine von Zenge heiratete daraufhin zwei Jahre später den Universitätsprofessor Wilhelm Traugott Krug.
»WIE VON DER FURIE GETRIEBEN …«
Von nun an hörten Kleists Reisen überhaupt nicht mehr auf, sein gesamtes Leben wirkte wie eine Flucht. Zusammen mit Ludwig Wieland, einem Sohn des bekannten Dichters Christoph Martin Wieland (* 1733, † 1813), reiste Kleist gegen Ende des Jahres 1802 nach Weimar, um dem alten Wieland den »Robert Guiskard« vorzutragen. Der zollte dem Stück enthusiastisches Lob. Bald darauf verließ Kleist Weimar wieder, vermutlich um seine ihm ausweglos erscheinende Liebesbeziehung zu Wielands jüngster Tochter abrupt abzubrechen. 1803 fuhr er über Genf ein weiteres Mal nach Paris. Der permanent zu spürende sprunghafte, fast krankhafte Wechsel seiner Gesinnungen nahm damals in Frankreich besonders heftige Formen an: Zum einen wollte er sich im Oktober Napoleons Heer anschließen, das sich zu einer Invasion in England sammelte; zum anderen scheint er sich mit dem wahnsinnigen Plan getragen zu haben, Napoleon in Boulogne-sur-Mer zu ermorden. In einem Brief blickt er auf jene Monate zurück, in denen er »wie von der Furie getrieben« Napoleon nachjagte: »Ich bin nicht imstande, vernünftigen Menschen einigen Aufschluss über diese
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