Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Barock bis Klassik
einerseits dem Reichtum der je nach Ausgabe aus rund zweihundert Märchen bestehenden Sammlung zu verdanken, andererseits der im Lauf der Zeit zunehmend durch Wilhelm Grimm weiterentwickelten Stilisierung ihrer Textgestalt, ohne dass dabei die Inhaltsstruktur verändert worden wäre. Man kann also sagen, dass es die Brüder Grimm waren, die den Stil und Typus dieser erstmals so niedergeschriebenen Kinder- und Hausmärchen geschaffen haben, der seinerseits durch Nacherzählen wieder auf die mündliche Tradition zurückwirkt und im Gegensatz zum literarischen, das heißt zu dem von einzelnen Schriftstellern erdichteten Kunstmärchen steht.
DEUTSCHE GRAMMATIK UND DEUTSCHE HELDENSAGE
Die breit angelegte Forschungsarbeit der Brüder Grimm während der Kasseler Jahre beschränkte sich jedoch nicht nur auf die so genannte Volkspoesie. Jacob und Wilhelm Grimm verfolgten durchaus auch jeweils eigene Forschungsprojekte, wenn auch stets kritisch aufbauend vom anderen begleitet. Jacob Grimm wurde immer mehr zum strengen Sprachwissenschaftler und Grammatiker, Wilhelm Grimm wandte sich mehr literaturgeschichtlichen Themen zu, wenn auch beide Brüder stets philologisch so vielseitig als möglich blieben. So entstanden die beiden Meisterwerke »Deutsche Grammatik I–IV« (1819/22–1837) von Jacob Grimm und »Deutsche Heldensage« (1829) von Wilhelm Grimm, beides materialreiche Grundlagen für die weitere Beschäftigung mit diesen Stoffkreisen für lange Zeit. »Deutsch« bedeutet in beiden Titeln »Germanisch«, denn sowohl in der Grammatik wie in der Heldensage wird der Bogen weit über die deutsche Überlieferung hinaus zum gesamten germanischen Sprachkreis gespannt. So kann man die »Deutsche Grammatik« als erste systematisch-historisch-vergleichende Sprachstufengrammatik des Germanischen bezeichnen, da sie von den altgermanischen Sprachen des Frühmittelalters über die mittleren Sprachstufen des Spätmittelalters bis zu den neugermanischen Schriftsprachen der Neuzeit führt und wissenschaftsgeschichtlich die zuvor ausschließlich bearbeitete Schul- oder Normgrammatik weitgehend ablöst.
JACOB GRIMMS LAUTGESETZE
Durch die in die »Deutsche Grammatik« eingearbeiteten und erstmals formulierten Lautgesetze vom Indogermanischen zum Germanischen und weiter zum Deutschen konnte eine völlig neue Basis für die vergleichende Sprachgeschichte und Etymologie geschaffen werden. Dies gilt besonders für die so genannte erste und zweite Lautverschiebung, mit der die Umgestaltung des Konsonantensystems bezeichnet wird, im Englischen bis heute »Grimm’s law« (Grimms Gesetz) genannt (z. B. der Wechsel von p nach f indogermanisch *pod-, *ped-, lateinisch pes, pedis; germanisch *fot-, englisch foot; deutsch Fuß).
Jacob Grimm befand sich mit diesen Forschungsergebnissen nicht ganz im Einklang mit der aufblühenden indogermanischen Sprachwissenschaft, blieb aber für das Germanisch-Deutsche führend. Kein Wunder, dass selbst bedeutende Dichter der Zeit wie Jean Paul oder Heinrich Heine Jacob Grimms »Deutsche Grammatik« als besonderes Meisterwerk priesen.
Die »Deutsche Heldensage« Wilhelm Grimms bildete ihrerseits eine neue Grundlage für eine tausend Jahre umfassende Literaturgeschichte des Kernstücks altgermanischer Dichtung, nämlich der Heldendichtung von der Völkerwanderung bis zum Ende des Mittelalters, mit sämtlichen verfügbaren Quellenzeugnissen. Ähnlich verwertete Wilhelm Grimm 1821 in seinem vorausweisenden Buch »Über deutsche Runen« die indirekten Zeugnisse über den Gebrauch dieser frühgermanischen Schriftzeichen zu einem kühnen Bild über deren Gebrauch im ältesten Deutsch, was sich durch die späteren Funde der so genannten festländischen Runen des 6./7. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet bestätigen sollte. Jacob Grimm wiederum überraschte 1828 die Forschung mit seinem Werk »Deutsche Rechtsalterthümer«, der ersten breiten philologischen kulturgeschichtlichen Darstellung von Formeln und Begriffen der altgermanisch-deutschen Rechtssprache, wobei er seine juristischen Kenntnisse in historisch-sprachlicher Hinsicht nutzen konnte. Die hier genannten und noch viele weitere Publikationen ließen die Brüder Grimm zu hoch geachteten Persönlichkeiten im Bereich der Sprach-, Literatur- und historischen Rechtswissenschaft werden, deren Ansehen bereits weit in die Nachbarländer reichte.
GÖTTINGER PROFESSORENZEIT
Anfang 1830 wurden Jacob und Wilhelm Grimm an die Universität und Bibliothek zu Göttingen
Weitere Kostenlose Bücher