Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
genau, wie es ausgesehen hat«, erzählte Michael Wiener.
»Das ist auch nicht nötig. Wir haben ja
von Claudines Tante eine Zeichnung bekommen. Es wäre immerhin ein Indiz, wenn wir
es bei jemandem finden könnten.«
»Ich habe heute im Zug über den Täter nachgedacht«,
begann Emile Couvier, »und ich glaube, es bedeutet ihm nichts, ertappt zu werden.
Das Risiko war unglaublich hoch – schließlich wohnen viele Menschen in den Wohnungen
um den Park hinter der Stadtmauer. Der Mord wurde zu einer Zeit begangen, zu der
durchaus jemand zufällig hätte aus einem der Fenster schauen und die Tat beobachten
können. Das ist ein seltsames Verhalten.«
»Ja. Leider haben unsere Nachfragen bei
den Anwohnern keinen Hinweis ergeben. Auch in der Jugendherberge wurde von niemandem
etwas beobachtet. Die Kollegen haben fleißig herumgefragt«, erklärte Skorubski.
»Eigentlich würde man doch erwarten, dass
er sich mit dem Opfer versteckt, wenn er noch nach dem Tod Verstümmelungen vornehmen
will. Doch dieser Täter ist anders. Es wirkt gerade so, als lege er es darauf an,
gefasst zu werden. Vorstellbar wäre eine Triebhandlung. Er erkennt das Schreckliche
und kann es doch nicht stoppen. Sucht Hilfe und Erlösung. Das hört sich seltsam
an, trifft aber für manche Täter tatsächlich zu. Und«, er seufzte tief, als widerstrebe
es ihm, diese Überlegung mitzuteilen, »ich glaube, dieser Mord war nicht der erste,
den er begangen hat.«
»Wir habe’ nichts über ähnliche Morde g’funde’«,
versicherte Michael Wiener. »Das checke’ wir immer zuerst.«
»Ach komm! Du weißt genau, dass unser System
nicht perfekt ist. Möglich ist es schon, dass jemand nur vergessen hat, seine Daten
einzuspeisen«, widersprach Skorubski.
»Wie kommst du darauf? Gibt es einen Hinweis
auf eine Serie, den wir übersehen haben?«, fragte Nachtigall besorgt.
»Nein, das nicht. Aber normalerweise ist
solch ein Mörder nach seiner Tat geschockt. Er wollte es vielleicht schon lange
tun, hasste den anderen – doch nun liegt er leblos da. Panikreaktionen sind normal
in dieser Situation. Der Täter flieht kopflos, lässt dadurch womöglich gar Beweismittel
am Tatort zurück. Aber nichts von all dem trifft auf unseren Mann zu. Deshalb glaube
ich, er kennt diese Situation schon, war darauf vorbereitet.«
»Ich verstehe, was du meinst«, antwortete
Nachtigall nachdenklich. »Und ich halte es für möglich, dass du damit recht hast.«
Persönlicher Groll hat bei der Arbeit nichts zu suchen, rief er sich ins Gedächtnis.
»Vielleicht ist es ja einer, der in einem
Trainingscamp g’wese’ ist. In so einem Ausbildungslager für Extremiste’«, begeisterte
sich Michael Wiener für eine neue Theorie.
»Gut – für heute ist Schluss. Morgen werden
wir versuchen, diese Freundin Heide zu finden, über die niemand etwas weiß. ›Burger
King‹. Dort müssen wir die Kollegen befragen, und vielleicht erfahren wir etwas
über auffällige Kunden, dem gehen wir dann nach. Und wir müssen die Stoßrichtung
unserer Ermittlungen der Theorie von Dr. März annähern. Wenigstens in etwa – wobei
wir dennoch unseren eigenen Ansatz weiterverfolgen.«
»Ach, bevor ich es vergess. Ein Kolleg’
hat vorhin ang’rufe. Bei einer Routinekontrolle eines Fahrzeugs einer der Rockergruppen
– ware’ des jetzt die ›Bandidos‹ oder die ›Hells Angels‹? Na, isch ja au’ egal.
Jedenfalls wurd’ eine Machete g’funde’. So was käme doch als Tatwaffe au infrage,
oder?«
»Hm – schon. So weit vom Schwert entfernt
ist das ja nicht. Aber ich kann mir so auf die Schnelle keine Verbindung zwischen
Claudine und Rockern vorstellen. Michael, klär das bitte gleich morgen früh. Vielleicht
ist sie irgendwie zwischen die Fronten geraten.«
»Ich habe mir auch Gedanken über das Loch
in der Stirn gemacht.« Emile Couvier war schon aufgestanden. »Vielleicht wollte
der Mörder ihren Geist befreien.«
29
Jule kam allein.
Nun, das hatte Nachtigall auch nicht anders
erwartet.
Er beobachtete, wie sie leichtfüßig auf
die Eingangstür zuschritt, und war für einen kurzen Moment irritiert.
Aber, überlegte er dann, sie nahm wahrscheinlich
an, dass er hinter dem Fenster stand und auf sie wartete. Natürlich wollte sie sich
ihre Niedergeschlagenheit nicht anmerken lassen.
Sekunden später wurde die Haustür aufgeschlossen
– er hatte den Schlüssel nie zurückgefordert –, und er hörte sie betont fröhlich
»Hallo! Guten Abend!« rufen. Doch so leicht konnte man ihn
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