Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
lösen. Nachtigalls Blick suchte nach Jule. Hatte sie
nicht gesagt, sie kannte Claudine ebenfalls? Vielleicht stand sie vor der Kirche
bei jenen, denen das Gebäude keinen Raum mehr bot.
In der ersten Reihe entdeckte er Frau Treschker.
Im Gegensatz zu den meisten anderen afrikanischstämmigen
Gästen trug sie Schwarz. Neben ihr saß ein untersetzter, dicklicher Mann mit Bürstenschnitt,
der ab und zu seinen Arm um ihre Schultern legte. Auch die Freunde Meinerts waren
erschienen, gingen mit selbstbewusstem Schritt den Gang entlang, standen schweigend
mit gesenktem Kopf vor Claudines Bild, traten dann zur Seite und nahmen Platz. Sie
würden schon bald auch Meinerts Trauerfeier besuchen, dachte Nachtigall bedrückt.
Und er hatte noch immer keine Spur zum Täter.
Unvermittelt verklang der letzte Akkord
der Musik.
Der Seelsorger der Gemeinde trat hinter
das Pult, hob beide Hände, und sofort herrschte gespannte Stille in der Kirche.
»Der Herr hat’s gegeben – der Herr hat’s
genommen! Und so schwer es uns auch fallen mag und so unbegreiflich es uns erscheinen
will, wir müssen seine Entscheidung akzeptieren. Natürlich sind wir besonders betroffen,
wenn er einen jungen Menschen aus unserer Mitte reißt. Claudine Caro wurde Opfer
eines Mordes! Brutal ausgeführt von einem Menschen, dessen Ziele und Motive noch
immer im Dunkeln liegen. Möglicherweise wurde sie das Opfer eines radikalen Geistes,
der sich gegen Menschen anderer Kultur und Hautfarbe richtet. Das Klima in unserer
Gesellschaft ist unstrittig rauer geworden, und ewig gestriges Gedankengut wagt
sich wieder ans Licht, fällt bei Unzufriedenen und Frustrierten auf fruchtbaren
Boden. Claudine Caro war eine fröhliche junge Frau, die in ihrem Studium Erfüllung
fand, ihrer Tante eine Stütze und Hilfe war, für jedermann ein offenes Ohr hatte.
Geboren auf Haiti, wagte sie den großen Sprung nach Deutschland, um hier ihren Traum
von einem Studium im Ausland zu verwirklichen und …«
Nachtigalls Gedanken schweiften ab. Sein
Blick wanderte über die Reihen. Viele machten betretene Gesichter, einige wischten
sich verstohlen Tränen von den Wangen, manche weinten heftig. Eine davon war Beate,
Claudines Freundin, die anderen kannte er nicht. Kristina starrte mit versteinertem
Gesicht auf das Foto, Tränen erlaubte sie sich nicht. Nachtigall bohrte Skorubski
seinen Zeigefinger in die Seite und machte ihn auf ein Pärchen aufmerksam, das besonders
betroffen zu sein schien. Eine junge Schwarze hatte sich zu ihrem Begleiter umgedreht
und lehnte mit heftig zuckenden Schultern an seiner Brust. Er flüsterte ihr Beruhigendes
zu, das Gesicht in ihrem Haar verborgen.
Eine kleine blonde Frau schluchzte hemmungslos
und wischte immer wieder mit einem Taschentuch neue Tränenströme von den Wangen.
War das Heide Fischer, die Frau, die Claudine eines Abends zufällig getroffen hatte?
Plötzlich kam Bewegung in die Trauerversammlung,
Musik setzte ein, und die erste Reihe strebte mit gemessenem Schritt dem Portal
zu. Mit Mühe gelang es Nachtigall, sich in die Nähe der blonden Frau zu schieben.
Offensichtlich gehörte sie nicht zu den Studenten der BTU, niemand begrüßte sie,
keiner sprach sie an. Vor der Kirche hatte Nachtigall es geschafft, direkt neben
ihr zu stehen.
»Entschuldigen Sie bitte, mein Name ist
Peter Nachtigall. Mordkommission Cottbus. Können wir uns kurz unterhalten?«
Die junge Frau sah den riesigen Mann aus
verquollenen Augen skeptisch an. Ihr Make-up lief mit den Tränen über beide Wangen
und hinterließ geheimnisvolle schwarze und farbige Spuren.
»Worüber sollten wir uns wohl unterhalten?«,
schniefte sie und versuchte, die Tränen wegzuwischen.
»Claudines Tod geht Ihnen sehr nahe. Sie
kannten Sie?«
»Ja.«
»Heide Fischer, vermute ich.«
»Ja. Woher wissen Sie meinen Namen?« Ihr
Misstrauen war geweckt, und Nachtigall, der erkannte, wie ungeschickt er vorgegangen
war, zückte seinen Ausweis.
»Wir arbeiteten zusammen. Manchmal gingen
wir gemeinsam ins Kino oder was trinken. Claudine war ein besonderer Mensch. Sie
gab einem immer das Gefühl, für sie und ihr Leben von Bedeutung zu sein. Es ist
noch immer unfassbar für mich, dass jemand gedankenlos einen so wertvollen Menschen
getötet hat!«
»Er hätte jemand anderen wählen sollen?«
Nachtigalls linke Augenbraue schnellte hoch.
»Ach, na ja. So habe ich es vielleicht auch
wieder nicht gemeint. Oder doch? Es gibt Typen, auf die könnte man gut verzichten.
Menschenhändler.
Weitere Kostenlose Bücher