Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
zu erwarten
gewesen. Der behauptete, es stimme – jedes Kind bekäme seine eigene Tüte.
»Tja, so ist das eben. Als Kunde zählt man
ja heute nirgends mehr was. Die tun so, als bräuchten sie uns gar nicht. Ich habe
ihm angeboten, er könne auch gleich eine ins Gesicht kriegen, und da hat das Weichei
gleich mit der Polizei gedroht. Ich habe ihm gesagt: ›Okay, lass sie kommen, dann
erzähle ich denen, dass ihr mich betrügen wolltet.‹ Als ich endlich meine zweite
Tüte bekommen hatte, bin ich gegangen. Der Geschäftsführer hat keinen Ton mehr gesagt.«
Dafür hatte Michael Wiener großes Verständnis.
Froh, Rosalind Bauer gesund entkommen zu sein, steuerte
er die nächste Adresse an.
Diesmal wollte er einen Herrn besuchen:
Paul Harrer, Anne-Frank-Straße in Sachsendorf. Dazu musste er die Stadt von Nord
nach Süd durchqueren. Zufrieden über die Auszeit, die es ihm ermöglichen würde,
seine Gedanken zu ordnen, fuhr er los.
Paul Harrer wohnte in einem Einfamilienhaus
mit großem Garten. Ein Bobbycar stand auf dem Rasen, der Sandkasten war bereits
für den kommenden Winter abgedeckt, die Auflage mit großen Steinen beschwert, damit
sie nicht weggeweht werden konnte. Es stellte sich heraus, dass Paul der älteste
Sohn der Familie Harrer war. Eine schüchterne junge Mutter, an deren Bein ein etwa
dreijähriges Mädchen hing, wies ihm den Weg.
»Paul ist mein Ältester. Er hat sein Zimmer
im Souterrain. Hinter der Tür links ist die Treppe, Pauls Zimmer ist dann direkt
geradeaus«, erklärte sie müde, und Wiener bemerkte die dunklen Schatten unter ihren
Augen.
»Die Kleine ist krank. Sie hat die ganze
Nacht geweint«, erklärte die Mutter, als könne sie Wieners Gedanken lesen.
»Hoffentlich nichts Ernstes«, meinte der
junge Beamte.
»Ich weiß es nicht. Sie hat Fieber. Wenn
es nicht besser wird, gehe ich mit ihr zum Arzt.«
Wiener nickte ihr zu und strich der Kleinen
leicht über den heißen Schopf. Dann stieg er die Treppe hinunter zu Paul.
Der große Sohn der Familie, groß, schlaksig
mit Führerhaarschnitt, saß unter der Reichskriegsflagge auf der Couch und guckte
fern. Das Klopfen hatte er wohl überhört, und so sprang er wie elektrisiert auf,
als sich die Tür öffnete.
»Wer sind Sie? Was fällt Ihnen ein?«, fauchte
er atemlos vor Schreck.
»Kriminalpolizei Cottbus. Ich heiße Michael
Wiener.«
»Wie interessant. Was wollen Sie von mir?«
»Wir untersuchen den Mord an der Studentin.«
»An der Schwarzen? Die an der Stadtmauer
lag?«
»Ja. Genau. Wir wissen, dass Sie«, Wiener
schätzte den Jungen auf ungefähr 16, »das Opfer flüchtig kannten. Sie bediente am
Spremberger Turm bei …«
»Ich weiß, wo sie bediente«, unterbrach
der Junge ihn unfreundlich. »Besuchen Sie jetzt jeden Kunden?«
»Nein, nur die, deren Verhalten aus dem
Rahmen fiel und deren Adressen deshalb notiert wurden. Und zu denen gehören Sie.«
»Ach, was Sie nicht sagen. Da stelle ich
mich extra in der Schlange bei der blonden deutschen Frau an, und was passiert?
Mein Burger war nicht fertig, ich sollte warten, man käme mit dem Essen zu meinem
Tisch. Und wer kommt? Etwa die blonde Frau? Nein! Meinen Burger bringt die Schwarze!
Eine Unverschämtheit. Ich habe ihn nicht genommen.«
»Und, was ist dann passiert?« Wiener sah
sich im Zimmer des Jungen um. Thor-Steinar-Kleidung über dem Stuhl. Landserplakate
über dem Bett. Gekreuzte Säbel, ein Gewehr und die Flagge hingen an der Wand – auf
dem Schreibtisch hatte ein Totenschädel neben dem Computerbildschirm einen Platz
gefunden. An der Pinnwand entdeckte er Fotos des Massakers in Littleton.
»Na, ich habe verlangt, dass mir die blonde
Frau einen neuen Burger bringt, denn den anderen würde ich nicht essen. Es entwickelte
sich eine Diskussion, weil die Idioten an den Nebentischen der Meinung waren, sie
müssten sich einmischen. Linke Zecken eben und deren verschrobenes Weltbild. Schlimm
genug, dass so was am Nebentisch sitzt. Bei der einsetzenden Prügelei hat die Schwarze
was abgekriegt – ich weiß nicht mehr, ob es ein Schlag oder bloß eine Cola war.
Aber was musste die auch versuchen dazwischenzugehen! Selbst schuld!«
Michael Wiener wurde zum ersten Mal bewusst,
wie aufreibend der Job in einem Fast-Food-Restaurant sein konnte. Direkt gefährlich.
»Und wenn die Blonde dazwischengegangen
und ›was abgekriegt‹ hätte?«
»Dann sicher nicht von mir. Und wenn einer
von den Linken ihr was getan hätte – für den hätt’s dann kein Morgen mehr
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