Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
in die Beine sackte, und griff Halt suchend nach einem Metallgeländer.
Beate Michaelis’ Verstümmelungen glichen
nicht denen der anderen Opfer.
»Tja – was soll ich sagen«, Dr. Manz räusperte
sich unbehaglich. »Von hinten erschlagen, schmale, scharfe Klinge, der erste Schlag
ging in die Kniekehle. Augen, Nase, Zunge, Ohren – wie gehabt. Kein Loch in der
Stirn. So weit alles wie beim letzten Opfer – doch dann muss den Täter eine unbändige
Wut ergriffen haben – anders kann ich mir nicht erklären, warum er das mit ihrem
Gesicht gemacht hat.«
Beate Michaelis’ Gesicht war nicht mehr vorhanden.
Der gesamte knöcherne Bereich des Gesichtsschädels
war zertrümmert.
»Kann es sein, dass er ihr erst nach der
Durchsuchung der Wohnung das Gesicht zerstört hat?«, ächzte Nachtigall und wünschte
sich weit weg von hier.
»Wenn Sie sich übergeben müssen, dann bitte
nicht hier!«, mahnte Dr. Manz, und Nachtigall atmete tief durch.
»Hören Sie! Ich weiß, was Sie jetzt gleich
sagen werden! Ihr Empathievermögen hilft Ihnen, Ihre Fälle zu lösen. Ist mir recht.
Aber wenn Sie wertvolle Spuren vernichten, ist niemandem geholfen.«
»Ist es denkbar, dass ihr Gesicht erst nach
der Durchsuchung der Wohnung …«
»Ja! Aber ob es so war, findet der Gerichtsmediziner
raus.«
Dr. Pankratz fuhr vor, ebenso Emile Couvier.
Peter Nachtigall war erleichtert, den Tatort
verlassen zu können, um ihnen Platz zu machen.
Der Gerichtsmediziner reichte ihm zur Begrüßung
eine kalte, knochige Hand und streifte dann Handschuhe über, um sich dem Opfer widmen
zu können. Emile klopfte Nachtigall auf die Schulter und blieb dann unbewegt in
der Einfahrt stehen. Er schien die Szenerie förmlich in sich einzusaugen. Andere
konnten leicht den Eindruck gewinnen, er sei nicht bei der Sache, doch Nachtigall
wusste, der Fachmann für operative Fallanalysen war in diesen Momenten hoch konzentriert.
Sein phänomenales Gedächtnis prägte sich jede Kleinigkeit ein, während in ihm Bild
für Bild der Film entstand, der den möglichen Tathergang zeigte.
Auch wenn er es nur ungern zugegeben hätte,
war der Hauptkommissar in diesem Moment dankbar dafür, dass Emile am Tatort erschien,
obwohl er von diesem Fall abgezogen worden war.
Die beiden Ärzte fachsimpelten über den
erkaltenden Körper. Ihre Stimmen klangen wie aus weiter Ferne. Nachtigall wurde
schwindelig – er drehte sich langsam um und stieg mit unsicheren Schritten die Treppe
zu Beate Michaelis’ Wohnung hinauf.
Er hätte diesen Mord verhindern müssen!
Schon beim Eintreten empfing ihn heilloses Chaos.
Diesmal schien der Täter noch gründlicher
gesucht zu haben als bei Meinert Hagen. Selbst die Teppiche waren aufgerollt und
alle Schränke ausgeräumt worden, Tische, Stühle und einige Schubladen lagen umgestürzt
auf dem Boden. Die Kugel, mit deren Hilfe Beate Michaelis in die Zukunft sehen zu
können glaubte, war ins Bad gerollt.
»Kann ich mich hier schon umschauen?«, rief
Nachtigall von der Tür aus.
»Ja. Aber nicht im Schlafzimmer. Da sind
wir noch nicht fertig. Und Handschuhe nicht vergessen!«
»Gut.«
Nachtigall schob seine Finger in die Latexhandschuhe
und hob die Kugel auf. An einer Stelle war sie beschädigt.
»Habt ihr gesehen, dass diese Glaskugel
einen Schaden hat?«, fragte Nachtigall einen der Kollegen vom Erkennungsdienst.
»Ja. Wir haben auch Fotos davon gemacht.«
»Wie kann man ein Stück aus einer Kugel
schlagen? Ich dachte immer, die runde Form sei die stabilste in der Natur.«
»Stimmt schon.« Der Kollege nahm die Glaskugel
in die Hand und inspizierte den Schaden intensiv.
»Mit einem Schürhaken könnte man vielleicht
so ein Loch hineinschlagen. Wenn wir einen finden, überprüfe ich das«, versprach
der Beamte und eilte weiter.
Während Nachtigall von Raum zu Raum ging,
ließ er das Chaos auf sich wirken. Würde er eine Methode dahinter entdecken, könnte
er vielleicht herausfinden, wonach der Mörder suchte.
»Wie lange braucht man, um aus einer sauber
aufgeräumten Wohnung solch ein Durcheinander entstehen zu lassen?«, fragte er in
den Raum hinein.
»Wenigstens ein bis zwei Stunden, denke
ich«, antwortete einer der Beamten und pinselte eine Schubladenfront ein, um Fingerabdrücke
zu nehmen.
»Quatsch!«, widersprach ein anderer. »Mein
Sohn braucht dazu bestenfalls zehn Minuten.« Die Kollegen lachten.
»Im Alter deines Sohnes haben sie das noch
richtig gut drauf – diese Fähigkeit verliert sich mit dem
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