Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
maliziös an.
»Wir fürchten uns nicht«, stellte er fest
und zog den Kragen seines Hemdes in Form. Sein Spiegelbild lächelte ermutigend zurück.
»Heute ist Kino angesagt. Und warum sollte
ich nicht hingehen? Es macht die anderen auch nicht mehr lebendig, wenn ich zu Hause
sitze und Trübsal blase. Meinert, das arme Schwein. Der hatte die schlechtesten
Karten, weil niemand ahnen konnte, dass die Morde weitergehen. Aber Beate, die hätte
sich schon ein bisschen mehr vorsehen können. Geht nachts vor die Tür und lässt
sich erschlagen! Blöd! Dabei waren wir alle gewarnt.«
Er überprüfte den Sitz seiner Hose, nahm
das Jackett von der Stuhllehne und schlüpfte hinein. Das Ergebnis war zufriedenstellend.
Zum Kino würde er natürlich nicht laufen,
sondern fahren. Mit dem Rad, das verstand sich wohl von selbst.
Beschwingt zog er die Wohnungstür hinter
sich zu und war entschlossen, den Abend so weit zu genießen, wie es ihm möglich
sein würde.
Als er nach mehr als zwei Stunden Action
zu seinem Fahrrad zurückkehrte, fühlte er sich unbesiegbar. Bruce Willis wurde überschätzt,
fand er selbstherrlich, nichts, was er nicht auch draufhätte, wenn es die Situation
erforderte.
Er bückte sich und nestelte eine Weile am
Schloss, bevor es ihm gelang, es aufzuschließen.
Schwang sich in den Sattel und wollte losfahren,
stieß aber auf einen unerwartet hohen Rollwiderstand.
Verärgert stieg er ab.
Beide Reifen waren platt!
»Scheiße!«, fluchte Norbert Grundmann aus
tiefstem Herzen.
Heide Fischer war sehr blass.
»Nehmen Sie Platz«, bot Nachtigall ihr den
Stuhl von Dr. Pankratz an, der die Runde mit den Worten »Ich habe noch einen Patienten
im Kühlfach liegen« verlassen hatte.
Die junge Frau schüttelte den Kopf.
»Nein, das ist nicht nötig. Es ist nur –
ich habe nie gesagt, ich könne Ihnen bei der Aufklärung der Mordfälle behilflich
sein. Ich habe nur Claudines Sachen aus meinem Spind geräumt. Wir teilten uns einen.
Als eine neue Mitarbeiterin anfing, gab es einen zu wenig, und so bot ich Claudine
an, ihre Sachen bei mir mit einzuschließen. Weil Claudine und ich befreundet waren,
dachte der Filialleiter, das sei kein Problem und könne so bleiben.«
Sie stellte sacht eine schreiend orangefarbene
Tüte auf dem Stuhl ab.
»Da ist alles drin. Alles, was ihr gehört
hat.« Heide Fischer schluckte hart. Nachtigall warf einen Blick in die Tragetasche:
ein Pulli, ein T-Shirt, eine dünne Jacke, ein Halstuch.
»Ein Brief?«
Er zog einen Umschlag heraus.
»Das ist ein Umschlag mit Fotos. Von ihrer
Familie, nehme ich an. Bestimmt wären ihre Verwandten froh, all diese Dinge zu bekommen.«
»Wir leiten die Tüte an sie weiter«, versicherte
Nachtigall.
»Dann gibt es auch keinen Grund für mich,
Sie weiter von der Arbeit abzuhalten«, verkündete Heide Fischer und nickte vage
in die Runde, um sich zu verabschieden.
»Sie kommen spät mit diesen Dingen. Besser,
Sie hätten uns diese Tüte gleich nach dem Mord übergeben.«
»Ja. Das ist wahr. Aber ich war so durcheinander
– und ich dachte, bestimmt wird niemand diese Sachen vermissen. Dann könnte ich
sie als Erinnerung an Claudine behalten. Inzwischen ist mir klar geworden, dass
das ein Fehler war.« Sie lächelte schuldbewusst.
Nachtigall erhob sich.
»Ich begleite Sie zum Ausgang. Man kann
sich hier leicht verlaufen.«
Schweigend gingen sie nebeneinander her.
Nachtigall spürte, wie seine Begleiterin um den nötigen Mut rang.
Am Ende brachte sie ihn dann doch nicht
auf.
Traurig sah der Hauptkommissar ihr beim
Einsteigen in ein Taxi zu.
»Du hast solche Angst! Warum vertraust du
dich mir nicht an? Was nutzt es dir, wenn dein Schweigen dir den Tod bringt?«, murrte
er.
»Und?«, fragte Emile, als er ins Büro zurückkehrte.
»Nichts«, antwortete Nachtigall besorgt.
Norbert Grundmann war wütend.
Er untersuchte die Reifen und fand in jedem
einen großen Schlitz.
So ein Scherzkeks aber auch, dachte er bebend,
vielleicht sollte man darüber nachdenken, für Fahrradreifenschlitzer die Todesstrafe
einzuführen, dachte er hasserfüllt, während er das Rad in Richtung Einkaufszentrum
schob.
Das war nun eindeutig die Situation, die
er dringend hatte vermeiden wollen.
Von jeher war es ihm verhasst, im Dunkeln
allein unterwegs zu sein. Normalerweise war das leicht zu umgehen, es fand sich
in der Regel eine Begleitung. Aber ausgerechnet heute schien er der Einzige aus
der gewaltsam verkleinerten Gruppe zu sein, der Bock auf
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