Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
konnte ich den Sturz am Rad abfangen. Er hat bei dem Hieb nur ein
Knie erwischt – das andere hatte wohl günstig hinter dem Pedal Deckung gefunden.
Vielleicht hat sich sein Schwert oder was immer er benutzt hat, auch in den Speichen
verfangen. Ich war ein bisschen benommen – aber nicht bewusstlos. Und ich schrie
natürlich wie am Spieß. Das tat tierisch weh. Er ist dann offenbar sofort abgehauen.«
»Sie wurden gerettet, weil ein vorbeifahrendes
Taxi Ihre Notsituation erkannte und einen Krankenwagen verständigte.« Skorubski
war noch immer verärgert über so viel Leichtsinn.
»Aber das war erst unten an der Kreuzung
zur Gelsenkirchener Allee! Bis dahin musste ich auf einem Bein hüpfen. Es blutete
wie verrückt, und mir wurde immer schwummriger.«
»Hätte der Taxifahrer nicht sofort gehalten
– obwohl sein Kunde das nicht wollte –, wären Sie womöglich dort gestorben.«
»Ja, ja. Ich verstehe Sie völlig. Ich habe
auch den Beamten abgelehnt, der mich auf Schritt und Tritt begleiten sollte – ich
bin eben lieber frei. Und nun wurde ich überfallen, tja, das ist nicht mehr zu ändern.
Mein Plan sah eigentlich vor, dass ich ihm davonradele. Aber als ich aus dem Kino
kam, waren beide Reifen platt, und ich musste schieben.« Trotz der allgemeinen Schwäche
seiner Stimme war die Empörung bei den letzten Worten deutlich zu spüren.
»Sie glauben, jemand hat dafür gesorgt,
dass Sie laufen mussten?«, fragte Nachtigall gepresst.
»Ist ja wohl keine Frage, oder? Die Reifen
waren zerstochen.«
»Ist Ihnen klar, was das bedeutet?«
Vorsichtig schüttelte Grundmann den Kopf.
»Entweder kannte der Täter Ihr Rad, das
ist eher unwahrscheinlich, oder er folgte Ihnen von Ihrer Wohnung aus und beobachtete,
wie Sie das Rad anketteten. Dann bereitete er alles so vor, dass Sie zu Fuß gehen
mussten. Möglicherweise lief er ein Stück voraus und erwartete Sie auf dem Streckenabschnitt,
der wegen des Ausfalls der Straßenbeleuchtung im tiefen Dunkel lag.«
»Dabei habe ich noch darüber nachgedacht,
ob ich nicht umkehren soll, als ich gesehen habe, dass die Lampen nicht brennen«,
gab Grundmann kleinlaut zu.
»Aber das war nicht das einzige Risiko,
das der Täter einging.« Nachtigalls Miene verdüsterte sich mehr und mehr. »Sie hätten
einen anderen Weg nehmen können und, abgesehen davon, wäre es möglich gewesen, dass
Sie zufällig jemanden treffen und nicht allein nach Hause gehen. Oder ein Freund
brächte Sie im Auto zurück. Sie hätten das Rad einfach stehen lassen können. Und
selbst der Bus fährt um diese Zeit noch, oder?«
Norbert Grundmann schwieg betroffen.
So genau hatte er sich das offensichtlich
noch nicht überlegt.
Nach einer längeren Pause murmelte der junge
Mann mit belegter Stimme: »Er weiß also, wo ich wohne, wo ich mein Rad abstelle,
welchen Weg nach Hause ich wählen werde – hätte er mich nicht dort erwischt, dann
wäre ich ihm wohl vor meiner Wohnung direkt in die Arme gelaufen. Ich hatte doch
gar keine richtige Angst, wissen Sie? Ich war mit Claudine gar nicht wirklich eng
befreundet.«
»Sie hatten unglaubliches Glück! Wurde Ihnen
etwas entwendet?«
»Meine Kleidung. Die Polizei hat alles mitgenommen,
in großen Papiertüten. Ich werde das Krankenhaus splitterfasernackt verlassen müssen.«
Peter Nachtigall lachte leise.
»Bestimmt wird Ihnen jemand etwas zum Anziehen
aus der Wohnung holen. Und die Kleidung bekommen Sie wieder.«
»Sie hatten keine Tasche dabei?«, hakte
Skorubski nach.
»Nein. Alles in der Hosentasche oder in
der Jacke. Aber Ihre Kollegen haben meine ›persönlichen Gegenstände‹, wie sie das
nannten, in eine Spuckschale gelegt. Dort müssten Sie alles finden.«
»Wo?«
»Im Schrank. Er hatte nicht viel Zeit mich
zu berauben – er hat schnell gemerkt, dass die Sache irgendwie schiefgegangen war.«
Nachtigall öffnete den Schrank und hob die
Nierenschale vom obersten Brett.
»Geldbörse, Taschentücher, Kleingeld, Handy,
ein Lippenpflegestift, ein Nagelknipser, ein paar Hundekuchen – ist das Ihre eiserne
Ration für Hungerattacken?«, Nachtigall schmunzelte und kramte weiter. »Hatten Sie
Ihre Schlüssel nicht in die Tasche gesteckt, als Sie losgingen?«, fragte er dann
alarmiert.
Grundmann dachte nach.
»Ich kam aus dem Kino. Auf halbem Weg zum
Rad habe ich den Schlüssel aus der Tasche gepfriemelt – ist ein großer Schlüsselbund,
und er verhakt sich immer.« Er machte eine Pause. »Ich habe ihn bestimmt wieder
zurückgesteckt«,
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