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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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selben Tag.
    Sie schrieb den Brüdern in Ontario – was sollte sie anders tun?, und im Spätfrühling, als die Straßen trocken und die Saaten ausgebracht waren, kam Andrew mit einem Ochsengespann und einem Karren, um sie und ihre Kinder und ihre Habseligkeiten nach Esquesing zu holen.
    »Wo ist die eiserne Kassette?«, fragte Mary. »Ich habe sie zuletzt gesehen, kurz bevor ich mich schlafen gelegt habe. Ist sie schon auf dem Karren?«
    Andrew sagte Nein. Er hatte gerade zwei Rollen Bettzeug, eingewickelt in Packleinwand, aufgeladen.
    »Becky?«, rief Mary scharf. Becky Johnson saß ganz in der Nähe auf einem Schemel und wiegte in ihren Armen den Säugling, hätte also den Mund aufmachen können, falls sie etwas vom Verbleib der Kassette wusste. Doch sie war schlechter Laune, hatte an jenem Morgen kaum ein Wort gesagt. Und jetzt schüttelte sie nur leicht den Kopf, als bedeuteten ihr die Kassette und das Packen und Aufladen und die Abreise, die kurz bevorstand, nicht das Mindeste.
    »Versteht sie uns?«, fragte Andrew. Becky war ein Halbblut, und er hatte sie für eine Dienerin gehalten, bis Mary ihm erklärte, dass sie eine Nachbarin war.
    »Bei uns gibt’s die auch«, sagte er und sprach, als habe Becky keine Ohren am Kopf. »Aber wir lassen sie nicht ins Haus und so bei uns herumsitzen.«
    »Sie ist mir eine große Hilfe gewesen«, sagte Mary, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Ihr Vater war Weißer.«
    »Na«, sagte Andrew, als gebe es diesbezüglich zwei Sichtweisen.
    Mary sagte: »Ich weiß gar nicht, wie sie vor meinen Augen einfach so verschwinden kann.«
    Sie wandte sich von ihrem Schwager ab und suchte bei dem ihrer Söhne Hilfe, der ihr eine Stütze war.
    »Johnnie, hast du zufällig die schwarze Eisenkassette gesehen?«
    Johnnie saß auf dem unteren Etagenbett, von dem jetzt nur noch die Latten vorhanden waren, und passte auf seine kleineren Brüder Robbie und Tommy auf, wie seine Mutter es ihm befohlen hatte. Er hatte das Spiel erfunden, einen Löffel in eine der Spalten des Dielenfußbodens zu werfen und abzuwarten, wer ihn als Erster finden und aufheben würde. Natürlich gewann Robbie jedes Mal, obwohl Johnnie ihn gebeten hatte, sich Zeit zu lassen und seinem kleineren Bruder eine Chance zu geben. Tommy war so vom Spiel gefesselt, dass es ihm nichts auszumachen schien. Außerdem war er, als der Kleinste, daran gewöhnt.
    Johnnie schüttelte geistesabwesend den Kopf. Mary erwartete auch nichts anderes. Doch einen Augenblick später antwortete er ihr, als habe er gerade erst ihre Frage begriffen.
    »James sitzt drauf. Draußen im Hof.«
    Nicht nur darauf saß er, sah Mary, als sie hinauseilte, sondern er hatte sie mit der Jacke seines Vaters zugedeckt, der Jacke, in der Will geheiratet hatte. Er musste sie aus der Kleiderkiste, die schon auf dem Karren stand, herausgezerrt haben.
    »Was machst du denn da?«, schrie Mary, als sähe sie es nicht. »Du sollst doch die Kassette nicht anfassen. Und was machst du mit der Jacke deines Vaters, nachdem ich sie schon eingepackt habe? Ich müsste dich versohlen.«
    Sie merkte, dass Andrew zusah und das wahrscheinlich für einen allzu schwachen Tadel hielt. Er hatte Jamie gebeten, ihm beim Aufladen der Kiste zu helfen, was Jamie auch widerwillig getan hatte, aber dann hatte er sich verdrückt, statt abzuwarten, ob er noch helfen konnte. Und gestern, als Andrew angekommen war, da hatte der Junge so getan, als wüsste er nicht, wer er war. »Da ist ein Mann draußen mit einem Karren und einem Ochsengespann«, hatte er zu seiner Mutter gesagt, als würde nichts dergleichen erwartet und ginge ihn nichts an.
    Andrew fragte sie, ob der Junge ganz richtig sei. Ganz richtig im Kopf, meinte er.
    »Der Tod seines Vaters war sehr schwer für ihn«, sagte sie.
    »Ja«, sagte Andrew, fügte aber hinzu, dass inzwischen schon Zeit gewesen sei, um darüber hinwegzukommen.
    Die Kassette war abgeschlossen. Mary trug den Schlüssel um den Hals. Sie fragte sich, ob Jamie, der das nicht wusste, vorgehabt hatte, hineinzuschauen. Ihr war nach Weinen zumute.
    »Leg die Jacke in die Kiste zurück«, war alles, was sie herausbrachte.
    In der Kassette befanden sich Wills Pistole und solche Dokumente, wie Andrew sie in Hinsicht auf das Haus und den Hof brauchte, dazu der Brief, den Colonel Munro vor ihrer Abreise aus Schottland geschrieben hatte, und noch ein Brief, den Mary an Will gerichtet hatte, bevor sie heirateten. Als Antwort auf einen Brief von ihm – sein erstes Lebenszeichen,

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