Wu & Durant 01 - Umweg zur Hölle
sagte er.
»Sie können ihn lesen, wenn Sie wollen.«
Durant dachte darüber nach. »Könnte er für unsere Suche hilfreich sein?«
»Nein.«
»Dann werde ich ihn nicht lesen. Sollten wir sie finden, hat sie vielleicht was dagegen, daß der Briefträger ihre Briefe liest. Und das ist doch in Wahrheit alles, was wir sind – Briefträger, oder?«
Er leckte über die Klebefläche, drückte sie fest an und legte den Umschlag auf den Couchtisch.
Lace betrachtete Durant und lächelte. Sie zeigte ihr schönstes Lächeln. »Das war verdammt anständig von Ihnen«, sagte sie.
»Was?«
»Den Brief nicht zu lesen. Die meisten Menschen hätten ihn gelesen.«
»Meinen Sie?«
»Ich weiß es.«
Durant grinste. »Dann sind wir in dem Punkt einer Meinung.« Er nahm seinen Kaffeebecher und trank. »Erzählen Sie mir von ihr«, sagte er, während er den Becher wieder absetzte. »Silk?«
»Von ihr und dem Kongreßabgeordneten.«
»Silk«, sagte sie und bückte sich wieder, um in ihrer Tasche herumzuangeln. Sie förderte eine rote Schachtel Sherman-Zigaretten von der langen braunen Sorte zutage, nahm sich eine und bot die Schachtel Durant an. Er bediente sich, nickte zum Dank und gab erst ihr und dann sich mit einem Wegwerffeuerzeug Feuer. Lace blies Rauch ins Zimmer und sagte nochmal: »Silk« und blies wieder Rauch ins Zimmer. »Wissen Sie, Silk und ich haben immer sehr aneinander gehangen. Ivory und Silk natürlich auch. Aber irgendwie waren beide enger mit mir verbunden. Sie verstehen, was ich sagen will?«
»Durchaus.«
»Haben Sie Geschwister?«
»Ich dachte, Ihr Mann hätte sich informiert?«
Lace schüttelte in einer Art von Selbsttadel leicht den Kopf. »Oh, ich vergaß. Sie sind in einem Waisenhaus aufgewachsen, nicht wahr?«
Durant nickte.
»Sie und Mr. Wu.«
»Ja.«
»Wie ist das, wenn man aufwächst, ohne zu wissen, wohin man gehört?«
»Man gewöhnt sich dran.«
»Und wenn nicht?«
»Erfindet man was.«
»Wie Mr. Wu?«
»Er hat nichts erfunden.«
»Sie meinen, er ist wirklich Anwärter auf den Kaiserthron?«
Durant nickte langsam. »Wenn er es braucht, ja.«
Eine Weile herrschte Stille, während Lace ihre Antwort prüfte. »Ich glaube, ich verstehe, was Sie damit sagen wollen«, sagte sie schließlich.
Durant lächelte. »Vielleicht …«
»Aber Silk«, sagte sie, »um Silk zu verstehen, muß man, glaube ich, wissen, wie wir aufgewachsen sind.« Sie drückte ihre kaum angerauchte Zigarette mit nachgerade umständlicher Sorgfalt aus, während sie darüber nachdachte, was sie wie sagen sollte. »Wir sind ziemlich ärmlich auf achtzig Morgen in den Arkansas Ozards aufgewachsen, in der Black Mountain Folk School, wie Papa sie nannte. Mein Mann nennt sie nur die Bombenlegerschule.«
»War sie das?«
Lace lächelte. »Nein. Papa war Sozialist und Prediger, aber heute glaube ich, zuallererst war er Lehrer. Er fand, es müßte in den Vereinigten Staaten einen Ort geben, wo alle Dinge gelehrt werden, die verlorenzugehen drohen. Folklore, Handwerk, wissen Sie. Wie man aus Rohr einen Sitz flicht, wie man Juckreiz mit Schwefel und Speck heilt, wie man einen Wespenstich mit zermahlenem Jakobskraut heilt, sogar wie man eine Blockhütte baut. Oder wie man Opossum zubereitet. Haben Sie schon mal Opossum gegessen?«
»Noch nie.«
»Schmeckt gut, wenn man es richtig zubereitet. Der Kopf schmeckt am besten. Als wir klein waren, stritten Ivory, Silk und ich uns immer um den Kopf. Man ißt alles, bis auf die Augen. Wie auch immer – während der Depression, als Papa noch nicht verheiratet war, bereiste er den ganzen Süden und predigte, wo sich die Chance bot, aber meist in den Bergen. Dort erwarb er seine Kenntnisse und schrieb sich eine Menge auf. Lieder gehörten auch dazu. Lieder sammelte er sogar gezielt. Er konnte auf fast jedem beliebigen Instrument spielen, obwohl er natürlich nie unterrichtet worden war. Und singen konnte er! Er hatte einen dieser stimmgewaltigen, vollen Baritone aus den ländlichen Kirchenchören, die man heute allenfalls noch in Joplin findet. ›Laut, Mädchen ‹ , pflegte er zu uns zu sagen. ›Den Leuten ist es egal, was ihr singt, wenn ihr es nur richtig und laut singt.‹« Sie hielt inne und lächelte Durant an. »Vielleicht erinnern Sie sich, wie wir gesungen haben.«
Durant lächelte zurück. »Richtig und laut«, sagte er.
»Wie auch immer, Papa landete 1940 oben in Arkansas. Er war damals, glaube ich, zweiunddreißig oder dreiunddreißig. Er hatte diese verrückte
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