Wünsche
Schwester geht es nicht gut.
Hannes versuchte, seinen Knebel auszuspucken.
Ich habe sie soeben erwischt, sagte Wünsche, wie sie unten im Laden vor Fräulein Möller ihren Mantel geöffnet hat. Unter dem Mantel war sie nackt. Fräulein Möller hat die Hände vor das Gesicht geschlagen und gesagt: O Gott, ich kündige. Darauf Meret, Gott hat damit gar nichts zu tun, aber ich brauche sofort einen neuen BH , einen passenden Slip und ein Paar Strümpfe. Am besten die halterlosen, die ich gestern auch ausgesucht habe. Fräulein Möller hat daraufhin in ihren Schubladen herumgewühlt. Fast hat sie geweint.
Folgendes noch, sagte Friedrich mit einer Stimme, die auch fallende Börsenkurse hätte durchsagen können, ich hoffe, du hast noch einen Moment Geduld, Hannes.
Ich hoffe, der Anrufbeantworter schaltet sich gleich ab, sagte Hannes. Aber es kam nur ein dumpfes Muhen heraus.
Mit Fräulein Möller habe ich noch einmal geredet, sagte Friedrich, sie kündigt nicht. Sie bleibt. Nicht wegen mir und schon gar nicht wegen Meret. Sie bleibt wegen unserer verstorbenen Mutter. Dich aber wollte ich fragen, ob du einen guten Seelendoktor für Meret weißt. Du kennst dich doch mit Träumen und deren Deutung aus. Ob wir da besser einen Therapeuten oder einen Analytiker aufsuchen sollen, weiß ich nicht genau.
Therapeut oder Analytiker, wiederholte Hannes da sehr fröhlich und sehr laut. Ein Sadist würde reichen, so einer, der ihr regelmäßig den Hintern versohlt, bis sie ein Einsehen hat. Oder einen Orgasmus.
Endlich hatte er sich von dem Knebel befreit.
Danke, sagte Wünsche. Er legte auf.
Hannes’ Nacken schmerzte. Seine Gelenke fühlten sich taubenblau an. Aber da war noch ihr Geruch im Zimmer, wie der Beweis für etwas ganz anderes. Er suchte nach Wörtern dafür: Warmes Gras, Pilze, Laub, Holzfeuer, aufgewühlte Erde und Abende, die duften wie frische Erbsen, wenn man sie aus der Schote befreit. Als Meret für eine Weile bei ihm eingeschlafen war, hatte das Innere seiner Nase angefangen, bis in den Kopf hinein ihren schönen Herbst zu riechen. Und wie sie mit der einen Hälfte ihres Gesichts auf seinem Herzen gelegen hatte, hatte er sie sogar gemocht. Ein wenig wenigstens. Warum war sie nur so blöd? Warum nur war sie schon so alt?
6.
Sie sahen sich kaum, im Juni. Sie sahen sich eigentlich gar nicht. Er merkte, er wartete.
Im Juli kaufte sich Hannes im Haus Wünsche eine neue Jeans. Fräulein Möller bediente ihn. Plötzlich stand Meret daneben. Sie sagte, wenn du nicht genau weißt, ob eine Hose dir passt, dann leg dir den Bund um deinen Hals. Passt sie dort, passt sie auch sonst. Er lächelte, sie auch, und er war überrascht über diese unerwartete, schüchterne Wärme zwischen ihnen. Als er fragte, versuchen wir es noch mal, hatte er das Gefühl, eine gute oder eine schlechte Eigenschaft mehr zu brauchen, um eine Situation wie diese zu seiner machen zu können.
Versuchen kann man’s ja mal, sagte Meret.
Sie drehten tags drauf weiter.
Ende Juli sah er sich mit Karatsch im Bungalow auf halbem Hang den alten Film von Silvester noch einmal an. Vera, zwölf, saß auf der Mauer bei der Brauerei und rauchte ihre ersten Ringe. Ein Angebot, das der Regisseur gleich in den Film mit einbaute, sagte Karatsch. Heinzi, im Film Hatte genannt, trank einen Schnaps, und Friedrich, genannt Fetzer, warf wiehernd ein Bonbon ein. Dann legte Friedrich Wünsche seine Hand auf Veras Hand. Sie summte ein Lied, in dem weiße Vögel vorkamen, während die Kamera auf die drei Kinder zufuhr. Der Heinzi, sagte Karatsch, der ist jetzt auch schon tot. Der sollte in manchen Szenen trinken, wie seine Filmeltern auch. Aber er trank wirklich Schnaps, nicht nur vor der Kamera.
An einem Abend im August stürzte Hannes vom Bad in die Küche, weil er glaubte, es habe nach angebrannter Milch gerochen. Doch hatte er seit Tagen keine Milch mehr im Haus. Die Art, wie er in der Dämmerung stand, die jetzt schneller kam als im Juli noch, erinnerte ihn an einen Film: Ein Mann wartet täglich am Fenster seiner Kellerwohnung, bis die schwarzen Pumps einer gewissen Frau auf Augenhöhe vorbeiklackern.
Bei der jährlichen Eröffnung der Kirmes an einem Freitagmittag Ende August stand er mit Karatsch am Bierstand. Nach dem dritten Bier war Karatsch wie immer gerührt. Da ist mir eines Tages dieser Hund hinterhergelaufen, sagte er, so ein Mischling mit flach angelegten Ohren und vorstehenden Rippen. Sein Schwanz streifte den Boden, als er neben meiner
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