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Wuestenmond

Wuestenmond

Titel: Wuestenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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lange, weiße Fäden ab. Ein feiner Schmerz preßte mein Herz zusammen, ein Schmerz, der gleich wieder verging. Es war auch eigentlich kein richtiger Schmerz, eher eine Mischung aus Mitleid und Begehren. Bald kam Elias mit der Thermosflasche zurück, die er mit abgekochtem Wasser gefüllt hatte. Wir tranken abwechselnd. Dann bot er mir eine Zigarette an, gab mir Feuer, wobei sich unsere Hände zu einem Korb von zärtlich verflochtenen Fingern formten. Still saßen wir da und rauchten. Nach einer Weile begann Elias mit leiser, weicher Stimme ein Gedicht aufzusagen.
    Und von dem Gedicht ging eine so seltsame Kraft aus, daß ich mich zu ihm beugte, um auch nicht einen Ton zu verlieren. Da erst merkte ich, daß mir die Begriffe, die er verwendete, unbekannt waren. Was ich am deutlichsten spürte, war der skandierte, feierliche Rhythmus.
    Elias’ geschmeidige Stimme stieg und fiel; es hörte sich wie eine Beschwörung an. Ein Schauer überfiel mich. Merkwürdige Empfindungen zogen durch mich hindurch, doch ich wagte nicht, Elias zu unterbrechen, und blieb bis zum letzten Wort in seinem Bann. Erst dann holte ich Luft. Erst dann konnte ich sprechen. Ich fragte:
    »Waren deine Worte Tamahaq?«
    Er wandte mir den Blick zu. Seine Augen waren dunkel und verträumt.
    »Ja. Nicht nur die Schrift, auch die Sprache hat sich mit der Zeit verändert. Die meisten unserer Gedichte sind Schöpfungen des Augenblicks und am nächsten Tag vergessen. Der Geist früherer Generationen läßt sich nicht wirklich vermitteln. Aber es gibt Gedichte, die von Mund zu Mund gehen und Jahrhunderte überdauern. Dieses gehört dazu. Und es schildert keinen Sieg, sondern eine Niederlage.«
    »Kannst du mir das Gedicht übersetzen?«
    Er runzelte leicht die Brauen.
    »Ich will es versuchen.«
    Er rauchte nachdenklich, bevor er die Kippe auf einem Stein ausdrückte und sie in den Sand steckte. Dann begann er zu sprechen; und obwohl seine Stimme jetzt eintönig und ohne Modulation war, oder vielmehr gerade deswegen, erschien sie mir wie ein natürliches Echo der Wüste. Gleichzeitig unterstrich er seine Worte mit schönen, 286
    ausdrucksvollen Gesten. Seine Hände schienen die Worte wie Fäden aus der Luft zu greifen, um daraus eine Zauberkraft zu weben, mit der er mich fesselte.
    »Ich sag’s euch, Frauen, die ihr Verstand habt, und auch euch, die ihr blau schminkt Nase und Mund: Einen harten Kampf sah Amessera
    mit Wurfspeeren scharf und Gewehren der Feinde, mit Säbeln, die schnell aus der Scheide fuhren.
    Ich stürmte gegen Feinde, schlug um mich wie rasend, vom Blut ward bedeckt ich wie von einem Schleier.
    Es strömte mir über Schultern und Arme.
    Nichts, o ihr Spielerinnen des Imzad,
    wird man euch berichten von Felsenverstecken, in die ich da schmählich geflohen wäre!
    Bin ich nicht dreimal gefallen,
    und mußt’ ich nicht dreimal
    mich wieder erheben?
    Hat man nicht auf ein Kamel mich geladen,
    mich festgebunden im Sattel mit Stricken?
    Bei meinen Wunden, ihr Frauen,
    ihr sollt mich nicht anschau’n als ehrlos.
    Denn Niederlagen verzeiht man,
    Unehre nie!«
    Elias schwieg, saß stumm auf seinen untergeschlagenen Beinen, eine Gestalt, die durch die elegante Straffheit seiner Linien mich an die vorislamischen Höhlenmalereien erinnerte. Auf seinen Gesichtszügen lag wie ein Schimmer jene begeisterte Tapferkeit, von der das Gedicht berichtete. Und vor allem die selbstbewußte, absolute Freiheit eines Volkes, das nichts und niemanden beneidete, weil die Wüste all seinen Bedürfnissen entsprach, und das stolz genug war, um von sich selbst zu behaupten, auf dieser Menschenerde die ersten gewesen zu sein.
    »Von wem stammt dieses Gedicht?« brach ich schließlich das Schweigen.
    »Von Sidi ag Chebbab, vom Klan der Inemba. Er war ein Großonkel meines Vaters.«
    »Und du kennst seine Geschichte?«
    »In gewisser Weise. Die Geschichte der Vorfahren ist auch meine 287
    Geschichte. Die Ereignisse liegen weit zurück, wir messen ihnen mehr oder weniger Bedeutung bei. Manchmal schließe ich die Augen und glaube, daß ich noch in dieser vergangenen Zeit lebe. Ich kann nicht genau sagen, ob die Ereignisse wirklich so waren; der Krieg, den ich mitgemacht habe, war anders. Und doch kenne ich das alles: die Wunden, den Schmerz, die Verzweiflung. Ich sah den Tod, wie er das Gesicht oder die Brust eines Freundes zerfetzte, wie das Blut Kleider und Lederzeug tränkte und dem Leben viele Wege öffnete, wo es ausströmen konnte…«
    Er stockte; seine Augen

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