Wunder wie diese
Um zehn vor neun kriege ich mit, wie Ed und Chris etwas besprechen und dabei zu mir sehen. Dann kommt Ed zur Kasse 16.
»Hallo Amelia«, sagt er, irgendwie ziemlich förmlich.
»Hallo Ed«, sage ich im gleichen Tonfall.
»Also, ähm, ich feiere Sonntag nächste Woche meinen Geburtstag.« Er zieht einen Zettel aus der Tasche und gibt ihn mir. »Meine Eltern sind weg und wir wollen gleich nach der Arbeit zu mir.«
Chris an Kasse 2 hält beide Daumen hoch.
»Super. Danke. Ich komme. Wie alt wirst du denn?«
»Neunzehn«, sagt er. »Ich mach jetzt besser mal den Kassensturz.« Und weg ist er.
»Sonntag in einer Woche«, berichte ich Penny in Mathe am nächsten Tag.
»Ist das nicht der Abend vor der Geschichtsprüfung?«
»Ja, glaub schon. Was soll ich denn anziehen?«
Anfang des Jahres hat mir Lizey ein Oberteil und einen Rock geliehen für die Geburtstagsparty zum Sechzehnten einer Freundin. Penny und ich haben uns zusammen bei mir in Schale geworfen. Zu guter Letzt habe ich dann doch wieder T-Shirt und Jeans angezogen und war nicht davon abzubringen.
Beim nächsten Läuten ist Mittagspause. Die Mittagspause bedeutete bisher immer: Vierzig Minuten quatschen mit Penny. Jetzt sind dreißig Minuten davon für die Scott-Show reserviert. Täglich zieht Scott seine Vorstellung vor interessiertem Publikum ab. Ich habe beschlossen, das Thema anzusprechen, ganz behutsam, weil Penny direkte Konfrontation meistens sofort abwehrt.
»Warum unterhältst du dich eigentlich jeden Tag mit Scott, diesem Idioten?«
Ups. Ist mir so rausgerutscht.
Sie zieht eine Augenbraue hoch – kein gutes Zeichen.
»Der ist doch total daneben«, fahre ich fort. »Er sitzt Tag für Tag da und denkt: ›Ich bin der Obermacker.‹ Und statt ihm den Laufpass zu geben, ermunterst du ihn auch noch! Kein Wunder, dass er total selbstverliebt ist.«
»Da hast du dir ja offensichtlich schon eine Menge Gedanken drüber gemacht«, sagt Penny, ohne mich anzugucken.
»Ja, schon. Er ist so unhöflich. Jeden Tag kommt er und setzt sich neben dich und zu mir hat noch nicht ein einziges Mal ›Hallo‹ gesagt. Keiner von denen.«
»Also mal ehrlich, Amelia.« Jetzt sieht sie mich an. »Glaubst du nicht, das könnte was mit den verächtlichen Blicken zu tun haben, die du ihnen zuwirfst? Die könnten jeden Mann auf zehn Meter Entfernung außer Gefecht setzen.«
»Sie sind aber keine Männer.«
»Du gibst ihnen ganz klar zu verstehen, dass sie deiner komplett unwürdig sind. Du sitzt da oben auf deinem hohen Ross und blickst abfällig auf sie herab oder vergräbst dich in deinem Buch. Wieso sollten sie denn mit dir reden?«
»Das sind Deppen.«
»Meine Güte, so schlimm sind sie nun auch wieder nicht. Und falls es dir noch nicht aufgefallen ist, für manche von uns sind sie alles, was geht. Wir legen bei den Jungs nicht alle die Chris-Latte an. Niemand sonst hat einen Chris. Und ich versichere dir, wenn du nicht so sehr darauf fixiert wärst, alle Jungs der Welt an deinem Angebeteten zu messen, könntest du mit Scott und seinen Freunden auch entspannter umgehen.«
Ich bin eingeschnappt. »Du magst ihn doch nicht etwa, oder?«
Aber Penny antwortet nicht und tut so, als ob sie nichts mehr interessiere als Algebra. Ich starre auf meine Aufgaben und dann aus dem Fenster.
»Ich komme am Sonntag später von der Arbeit nach Hause«, sage ich zu Mum.
Es ist kurz vor 17 Uhr und ich bin gerade vom Netzballtraining nach Hause gekommen. Mum sitzt am Küchentisch mit einer Tasse Tee und hört den Klassiksender im Radio. In der Spüle stehen zwei große, schmutzige Pfannen. Sie sind noch vom gestrigen Abendessen und Dad sollte sie abwaschen. Ich betrachte sie nervös.
»Oh«, sagt sie.
»Einer von den Jungs auf Arbeit hat Geburtstag.«
»Der, der dir die Blumen geschenkt hat?«
»Wie? Nein, ein anderer.«
»Gut.« Sie trinkt einen Schluck Tee.
»Willst du nicht wissen, wo es ist und wann ich nach Hause komme?«
»Also …«
»Es ist dir völlig egal. Wo ich hingehe, was ich tue. Ich könnte ebenso gut da draußen Drogen nehmen oder ungeschützt Sex haben. Ich könnte dealen, mir Tattoos stechen lassen oder die Schule schmeißen. Und du würdest es gar nicht mitkriegen.« Ich weiß nicht so genau, warum ich das plötzlich alles sage. Ich bin Mum gegenüber sonst nie aggressiv. Ich habe viel zu viel Angst, sie noch trauriger zu machen, als sie sowieso schon ist. Aber immerhin habe ich nun ihre Aufmerksamkeit.
»Tatsächlich, du könntest all das tun«,
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