Wunder wie diese
Wecker aufwache, befürchte ich einen kurzen Moment, dass ich das Ganze geträumt habe. Ich habe schon öfter so was geträumt. Mein Blick wandert zu dem Kleiderhaufen auf dem Boden. Ich hebe das blaue T-Shirt auf und untersuche den Fleck am Hals und auf der Schulter. Ich rieche daran. Limettensirup. Ich muss so breit grinsen, dass mir die Tränen in die Augen steigen.
Seifenblasenmädchen
Nach der Schule taumle ich in Schlangenlinien nach Hause, ich kann meinen Kopf kaum aufrecht halten, die Augen fallen mir zu, aber meine Mundwinkel springen ständig nach oben. Ich versuche, mich an den bisherigen Tag zu erinnern. Als Jess sich geweigert hat, aufzustehen und sich anziehen zu lassen, habe ich sie einfach so sitzen lassen, habe es jemand anderem überlassen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich Mum Tee oder einen Toast gemacht habe. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass ich irgendwas empfunden hätte, als mein Vater von mir – die ich in ein paar Minuten losmusste – verlangte, dass ich die Küche verlasse, damit er – der er nicht um eine bestimmte Zeit irgendwo sein musste – in Ruhe seinen Tee kochen konnte. Ich stand ihm im Weg.
Noch bevor die Anwesenheitsliste komplett durchgegangen worden war, hatte ich Penny bereits alles brühwarm erzählt. Als Scott nebst Anhang in der Mittagspause auftauchte, bin ich noch nicht mal wütend geworden. Mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit habe ich den Geschichtstest vermasselt, aber bisher habe ich noch nicht weiter darüber nachgedacht.
Das Einzige, was mich interessiert, ist der Anruf von Chris, der heute Abend bestimmt noch kommt. Was werden wir wohl sagen? Über was reden Paare denn so miteinander? Ich erzähle ihm von meinem Tag und er mir von seinem. Ich werde ihm gestehen, wie sehr ich mich nach diesem Tag gesehnt habe, und er wird das Gleiche tun. Wann sehen wir uns denn wieder?, wird er fragen. Wir werden uns am Mittwochabend nach der Arbeit zum Essen verabreden. Wir gehen noch mal zu Rino’s, aber diesmal wird er ganz nah bei mir sitzen und meine Hand unter dem Tisch halten. Danach wird er den Arm um mich legen und mich nach Hause begleiten.
Um 19 Uhr 30 lassen sich alle zum Abendessen nieder. Er hat noch nicht angerufen.
»Wie war die Party gestern?«, fragt Mum.
»Gut. Prima.«
Wir essen schweigend.
»Ist alles in Ordnung, Amelia?«, fragt Mum noch mal.
»Ja!«
Als wir mit dem Essen fertig sind, stecken sich Mum und Dad ihre Zigaretten an. Ich räume den Tisch ab, entsorge die Reste, halte die Teller unters Wasser und staple sie am Beckenrand. Es ist Dads Aufgabe, den Geschirrspüler einzuräumen, wenn er zu Hause ist. Ich nehme den Hörer vom Telefon und überprüfe, ob es tutet. Ich ziehe mich damit in mein Zimmer zurück und setze mich im Schneidersitz aufs Bett.
Es ist 21 Uhr 30, noch immer nichts. Vielleicht sieht er wieder Media Watch. Um wie viel Uhr läuft Media Watch? Wahrscheinlich denkt er, dass es schon zu spät sei, um anzurufen.
Nach langem Überlegen und mit beginnender Panik, die mir allmählich die Kehle zuschnürt, reiße ich das Telefon an mich und wähle seine Nummer.
»Robyn Harvey«, sagt eine Frauenstimme, von der ich annehme, dass es seine Mutter ist.
»Kann ich bitte Chris sprechen?«
»Einen Moment bitte, Liebes.« Sie hört sich nett an. »Chris!«, ruft sie. »Telefon für dich.«
Schritte im Hintergrund und dann Chris’ Stimme: »Hallo?«
Meine Brust zieht sich zusammen.
»Ich bin’s, Amelia.«
»Hi.«
Er klingt irgendwie… bestürzt? Schroff? Überrascht? Verärgert?
»Wie geht es dir?«, erkundige ich mich mutig.
»Ich habe das, was man als Mutter aller Kater bezeichnen könnte.«
»Oh, das hört sich nicht gu–«
»Kann ich dich zurückrufen?«
»Häh?«
»Kann ich dich in zehn Minuten zurückrufen, Amelia?« Er klingt ungeduldig.
»Klar.«
Und dann legt er auf.
Ich sehe auf den Wecker. 21 Uhr 34. Ich warte.
Es klopft. Ich zucke zusammen.
»Ja!«
Mum öffnet die Tür, aber kommt nicht rein.
»Ich geh jetzt ins Bett.«
»Ist gut«, entgegne ich leicht gereizt. Warum sagt sie mir das? Sonst sagt sie doch auch nie was, sodass ich mich jedes Mal frage, ob ich in ihr Schlafzimmer gehen soll, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben. Aber immer, wenn ich es tatsächlich mal mache, sieht sie mich nur aus müden Augen an.
Jetzt steht sie da und sieht mich an, wie ich da mit dem Telefon im Schoß sitze. Ihr Blick wandert zu meiner nicht ausgepackten Schultasche, meinem unbeleuchteten
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