. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
zurückgegeben – vorausgesetzt, daß der Lehrer erstens am Freitag wirklich daran gedacht hatte, etwas aufzugeben, und zweitens gewissenhaft genug war, die Hefte am selben Tag noch durchzusehen. Wer hatte eigentlich Französisch unterrichtet? Er sah auf die Liste mit den Namen der Lehrer. Französisch – Mr. D. Acum. Dann wollen wir doch mal sehen, dachte Morse, wie genau es dieser Mr. Acum mit seinen Pflichten genommen hat. Er suchte sich Valeries Französischheft aus dem Stapel und schlug die letzte beschriebene Seite auf. Mr. Acum hatte die Aufgaben, wie der Plan vorsah, am Freitag gestellt, und Valerie hatte sie noch am selben Tag, wie das Datum rechts oben zeigte, erledigt. Sie hatte einen kurzen Text ins Französische übersetzen müssen. Den vielen roten Fehlermarkierungen nach zu urteilen sowie dem entsetzten Aber Valerie!, mit dem ein offenbar besonders dicker grammatischer Schnitzer kommentiert worden war, schien es mit Valeries Französischkenntnissen nicht weit her zu sein. Morse registrierte dies jedoch nur am Rande. Seine Aufmerksamkeit galt einem Satz unter der Hausaufgabe. Er war ihm gleich ins Auge gesprungen. »Komm bitte nach der Stunde zu mir.« Darunter sein Kürzel – »Ac«. Morse spürte wieder das Prickeln im Rücken. Nach der Stunde. Um halb eins also. Acum war mithin einer der letzten, die Valerie gesehen hatte, bevor sie … Bevor sie – was? Morse blickte nachdenklich durch das Fenster hinaus in den Himmel, über dessen blasses Blau die einsetzende Dämmerung einen durchsichtigen rötlich-grauen Schleier legte. Hatte Ainley gewußt, daß Valerie am Tag ihres Verschwindens von einem ihrer Lehrer zu einem Gespräch bestellt worden war? Und um was war es dabei gegangen? Die naheliegende Erklärung war natürlich, daß Acum sie wegen ihrer miserablen Hausaufgaben hatte zur Rede stellen wollen. Aber selbst, wenn es nur das war – der Zeitpunkt dieser Unterredung machte Acum für Morse interessant.
Bevor er ging, nahm Morse sich noch einmal den Londoner Brief an Valeries Eltern vor und verglich die Schrift dort mit der in den Heften. Auf den ersten Blick schienen sie identisch. Aber das besagte nicht viel. Ohnehin mußte er die Untersuchung des Schriftexperten abwarten. Das Ergebnis würde er nicht vor morgen abend in Händen halten, da er und Lewis morgen früh nach London fahren wollten. Und falls der Sachverständige nun zu dem Schluß kam, der Brief sei tatsächlich von Valerie geschrieben? Würde er sich dann damit zufriedengeben? Wahrscheinlich. Es bliebe ihm wohl nichts anderes übrig. Aber in dieser Beziehung brauchte er sich wohl keine Sorgen zu machen. Eine gründliche Analyse konnte eigentlich nur bestätigen, was er sich schon jetzt zu behaupten getraute: der Brief stammte nicht von Valeries Hand. Irgend jemand hatte sich viel Mühe gegeben, ihre Schrift nachzumachen – ein bißchen zu viel Mühe. Morse meinte auch zu wissen, wer das gewesen war, nur was den Grund anging, schwankte er noch; um so unerschütterlicher war dafür seine Überzeugung, daß er im Fall Taylor wegen eines Kapitalverbrechens ermittelte – und zwar wegen vorsätzlichen Mordes.
Kapitel Acht
Die Striptease-Künstlerin Gypsy Rose Lee traf gestern in Hollywood mit zwölf leeren Koffern ein
Harry P. Wade, amerikanischer Klatschkolumnist
In seinen besten Zeiten war es zweifellos ein großartiges Beispiel neogeorgianischer Eleganz gewesen, heute bot das Haus mit seiner schmutzigen, überall abbröckelnden Stuckfassade einen nur noch trostlosen Anblick. Auf der Säule links von der Eingangstür verkündete ein längst überholtes Plakat die bevorstehende Ankunft des Maharadsch Ji, auf der Säule rechts stand in schwarzen Ziffern aufgemalt die Hausnummer 42.
Eine nachlässig gekleidete Frau in mittleren Jahren mit Lockenwicklern im Haar, die sie unter einem Kopftuch nur notdürftig verborgen hatte, öffnete. Sie nahm die brennende Zigarette nicht aus dem Mund, und es war nicht zu entscheiden, ob die eng zusammengekniffenen Augen bedeuteten, daß sie die beiden Männer einer besonders kritischen Musterung unterzog oder ob sie nur wegen des Rauchs blinzelte.
»Polizei. Sie sind Mrs., äh …«
»Gibbs. Was wollen Sie?«
»Wenn wir vielleicht hereinkommen dürften …«
Sie zögerte und trat dann achselzuckend zur Seite. Kaum waren sie über die Schwelle getreten, schloß sie energisch die Tür hinter ihnen. Sie machte keinerlei Anstalten, sie in eins der Zimmer zu bitten, und die beiden
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