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das passiert ist – er war sofort tot.
Der Sekretärin des Lehrstuhls für Französisch am Lonsdale College paßt es gar nicht, daß sie an einem Sonntagmorgen ins Büro muß. Bloß wegen dieses Kongresses! Sie findet, die nähmen jetzt allmählich überhand – eine Ansicht, mit der sie nicht alleinsteht. Und insbesondere der heute beginnenden Tagung steht sie skeptisch gegenüber. Sie hält es für sinnlos, über Verbesserungen des Französischunterrichts an weiterführenden Schulen zu diskutieren; die notorische Unfähigkeit englischer Kinder, eine Fremdsprache zu lernen, wird sich ohnehin nicht beheben lassen. Obwohl sie – wie immer vor Beginn des Herbsttrimesters – in der letzten Woche besonders viel zu tun gehabt hat, liegt fast alles schon fertig vorbereitet da: die Liste der Teilnehmer, eine kurze Charakteristik ihrer Schulen, die Programme, in denen jeder nachlesen kann, was für die nächsten zwei Tage geplant ist, die Teilnahmebescheinigungen sowie die Speisekarten für das Bankett heute abend. Nur die Namensschilder fehlen noch. Sie setzt sich an die Schreibmaschine, schaltet das Farbband auf Rot und beginnt zu tippen. Die Arbeit ist schnell erledigt, und sie geht daran, die einzelnen Namen auszuschneiden und die rechteckigen Schildchen in kleine Plexiglashalter zu schieben. MR. J. ABBOTT, The Royal Grammar School, Chelmsford; MISS P. ACKROYD, High Wycombe Technical College; MR. D. ACUM, City of Caernarvon School …
Gegen Mittag ist sie fertig und trägt alles hinunter in den großen Sitzungssaal. Der Kongreß soll heute abend um halb sieben beginnen. Sie wird zu Anfang dabeisein und, an einem Tisch neben dem Eingang sitzend, die Teilnehmer begrüßen. Es ist eine Aufgabe, die sie gern übernimmt und für die sie sich jedesmal sorgfältig vorher zurechtmacht. Ihr Namensschild trägt den Zusatz Lonsdale College , was ja auch in gewisser Weise stimmt.
Seit der über die Chilterns geführte Abschnitt der M40 eröffnet worden ist, ist die Strecke nach London noch kürzer, und Morse ist schon vor vier Uhr nachmittags wieder zurück in Oxford. Die Fahrt hat sich gelohnt. Lewis hat recht gehabt, ein oder zwei Dinge ließen sich nur an Ort und Stelle klären. In seinem Büro im Präsidium wartet ein Umschlag auf ihn, zur Sicherheit noch mit Klebestreifen verschlossen. CHIEF INSPECTOR MORSE – PERSÖNLICH. Er öffnet ihn, zieht ein einzelnes Blatt heraus, überfliegt es und nickt – die Teile des Puzzles beginnen sich zusammenzufügen. Er läßt sich vom Fernamt mit Acums Anschluß in Caernarvon verbinden.
»Ja?« Die Stimme einer Frau.
»Mrs. Acum?«
»Ja.«
»Ich hätte gern Ihren Mann gesprochen.«
»Der ist leider nicht da.«
»Kann ich später noch mal anrufen?«
»Das hat wenig Sinn. Er ist auf einer Tagung.«
»Ah so. Und wann erwarten Sie ihn zurück?«
»Dienstag abend – aber wohl erst ziemlich spät.«
»Hm.«
»Soll ich ihm etwas ausrichten?«
»Äh … nein. Es ist nicht so wichtig. Ich rufe dann im Laufe der Woche noch einmal an.«
»Es würde mir nichts ausmachen …«
»Nein, nicht nötig. Und vielen Dank. Tut mir leid, daß ich Sie belästigen mußte.«
»Das macht nichts.«
Morse legt den Hörer auf und zuckt die Achseln. Pech, daß Acum nicht da ist und er ihn nicht hat fragen können. Aber, wie er eben gerade Mrs. Acum erklärt hat, es ist nicht so wichtig.
Baines ist kein Mann der regelmäßigen Gewohnheiten und hat keine festen Vorlieben. Manchmal trinkt er Bier und manchmal Guinness. Bisweilen, wenn der Tag unangenehm gewesen ist, bestellt er Whisky. Er frequentiert sowohl die Lounge als auch die Public Bar, mal geht er ins Bahnhofshotel, mal ins Royal Oxford – beide sind gleich bei ihm um die Ecke. Es kommt auch vor, daß er zu Hause bleibt.
Heute abend braucht er einen Whisky. Er sitzt in der Lounge des Bahnhofshotels, einem Ort, mit dem sich für ihn eine ganz spezielle Erinnerung verbindet. Der Raum ist nicht besonders groß, und häufig macht er sich einen Spaß daraus, den Gesprächen an den Nebentischen zuzuhören; aber heute steht ihm danach nicht der Sinn. Er ist – nein, nicht beunruhigt, das wäre ein zu starkes Wort – er ist angespannt. Diesen Morse sollte man nicht unterschätzen.
Die Mehrzahl der Gäste wartet auf den Zug nach London – gutgekleidete Männer, offenbar wohlhabend. Sind sie weg, kommen die, die den Zug verpaßt haben und sich für die Nacht ein Zimmer nehmen. Baines beobachtet sie jedesmal mit Neid –
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