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Wurzeln

Wurzeln

Titel: Wurzeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Haley
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sang und zwischendurch von den aufregenden Abenteuern erzählte, die er erlebt hatte.
    Kunta registrierte den Ablauf der Zeit nach afrikanischem Brauch, indem er am Morgen jedes neuen Mondes einen kleinen Kiesel in eine Kürbisflasche warf. Zuerst warf er zwölf runde, bunte Steine hinein für die zwölf Monde, die er seiner Schätzung nach auf der ersten toubob- Farm verbracht hatte, dann sechs weitere für die Zeit hier auf der neuen Farm; danach zählte er zweihundertvier Steine ab für die siebzehn Regen, die er alt gewesen war, als man ihn aus Juffure verschleppt hatte. Alles zusammengerechnet, mußte er jetzt im neunzehnten Regen sein.
    So alt er sich auch fühlte, war er noch immer ein junger Mann. Würde er den Rest seines Lebens hier verbringen wie der Gärtner? Alle Hoffnung, allen Stolz fahrenlassen, bis nichts Lebenswertes übrigblieb und die Zeit schließlich abgelaufen war? Der Gedanke erfüllte ihn mit Angst, aber auch mit Entschlossenheit: nein, er wollte nicht so enden wie der Alte, der in seinem Garten umhertappte und nicht wußte, welchen Fuß er vor den anderen setzen sollte. Schon lange vor dem Mittagessen war der alte Mann erschöpft; am Nachmittag konnte er nur noch so tun, als arbeite er, und Kunta mußte fast alles allein machen.
    Jeden Morgen, wenn sich Kunta über seine Pflanzen bückte, kam Bell mit ihrem Korb – Kunta hatte inzwischen erfahren, daß sie in dem großem Haus kochte – und holte das Gemüse, das sie für den Masser an diesem Tag brauchte. Sie gönnte Kunta dabei keinen Blick, auch nicht, wenn sie ganz nah an ihm vorüberging. Das verwirrte und ärgerte ihn, wenn er bedachte, daß sie ihn täglich gepflegt hatte, als er schwerkrank darniederlag, und daß sie ihm abends beim Fiedler immer zunickte. Schließlich redete er sich ein, daß er sie nicht leiden konnte, daß sie sich damals nur auf Anweisung des Masser um ihn gekümmert hatte. Kunta hätte zu gern gewußt, wie der Fiedler Bells Verhalten beurteilte, doch wäre es ihm peinlich gewesen, zu fragen, selbst wenn er die Wörter gewußt hätte.
    Eines Morgens fand sich der Alte nicht im Garten ein, und Kunta nahm an, daß er krank sei. Schon seit Tagen konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Anstatt in der Hütte des Alten nachzusehen, machte sich Kunta gleich ans Gießen und Unkrautjäten, denn er wußte, Bell mußte jeden Augenblick kommen, und er fand, sie müsse jemand im Garten antreffen.
    Als sie gleich darauf kam, füllte sie, ohne ihn anzusehen, ihren Korb mit Gemüse. Kunta, die Hacke in der Hand, beobachtete sie. Als sie fertig war, stellte sie den Korb auf den Boden, warf Kunta einen raschen, befehlenden Blick zu und ging. Es war klar, was sie wollte – er sollte ihr den Korb zur Hintertür des großen Hauses tragen, wie der Alte immer getan hatte. In Kunta stieg gewaltiger Zorn hoch, denn er sah im Geist die Frauen von Juffure vor sich, wie sie mit ihren Lasten auf dem Kopf an dem bantaba- Baum vorübergingen, unter dem die Männer von Juffure zu ruhen pflegten. Die Hacke in den Boden hauend, wollte er schon davonstapfen, als ihm einfiel, daß Bell den Masser bediente. Zähneknirschend bückte er sich, ergriff den Korb und folgte ihr wortlos. An der Tür wandte sich Bell um und nahm ihm den Korb ab, als sähe sie Kunta nicht. Er kehrte vor Wut kochend an seine Arbeit zurück.
    Von diesem Tag an rückte Kunta praktisch zum Gärtner auf. Der Alte, der sehr krank war, kam nur ab und zu einmal, wenn er einigermaßen auf den Beinen war. Er beschäftigte sich dann mit diesem und jenem, solange er konnte – es war nie sehr lange –, und humpelte dann zu seiner Hütte zurück. Er erinnerte Kunta an die alten Leute daheim in Juffure, die sich schämten, ihre Schwäche einzugestehen, die weiter umhertappten und zu arbeiten vorgaben, bis sie dann doch auf ihr Lager geworfen wurden und sich kaum noch draußen sehen ließen.
    Mit seinen neuen Pflichten fand sich Kunta schnell ab, nur ärgerte ihn, daß er Bell den Korb jeden Tag nachtragen mußte. Brummelnd folgte er ihr zur Tür, übergab den Korb so unwirsch, wie er sich traute, machte auf der Stelle kehrt und begab sich sofort wieder an die Arbeit. Doch sosehr er Bell auch verabscheute, bisweilen lief ihm das Wasser im Mund zusammen, wenn er im Garten roch, was Bell drinnen kochte.
    Er hatte bereits den zweiundzwanzigsten Stein in seine Kalenderflasche geworfen, als Bell – ohne daß sich ihr Verhalten geändert hätte – ihn eines Morgens ins Haus winkte.

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