Wurzeln
Straße, wo die Kurve ist. Du kommst da immer dran vorbei.«
Kunta wußte, welche Farm sie meinte. Er sah den Teich, der zwischen den Feldern lag, im Geiste vor sich.
»Aber denen ihre Geschäfte, die sie untereinander machen, sind nicht so wichtig. Weil die Wallers hängen doch alle zusammen«, fuhr Bell fort. »Die gehören zu den allerältesten Familien in Virginia. Die waren sogar schon eine alte Familie, wie sie noch überm Wasser in England waren. So was wie ›Sörrs‹ und so, und sie haben alle zur Church of England gehört. Einer von ihnen hat sogar Gedichte geschrieben, Masser Edmund Waller. Dem sein jüngerer Bruder, Masser John Waller, ist als erster hergekommen. Ich hab gehört, wie der Masser erzählt hat, daß der erst achtzehn war, als ein König Charles der Zweite ihm das große Land geschenkt hat, was jetzt der Kreis Kent ist.«
Sie gingen, während Bell sprach, immer langsamer, und Kunta freute sich an ihrem Redefluß, auch wenn er zumindest einige der Erzählungen schon von den anderen Köchinnen der Wallers gehört hatte. Aber das hätte er ihr niemals gesagt.
»Jedenfalls hat dieser John Waller eine Miss Mary Key geheiratet, und die haben Enfield gebaut, wo du den Masser immer zu seinen Leuten bringst. Und die haben drei Söhne gekriegt, besonders den John der Zweite, der der Jüngste war und Gott weiß was alles geworden ist. Erst war er Sheriff, und dabei hat er noch Recht studiert, und dann ging er ins Abgeordnetenhaus und hat mitgeholfen, Fredericksburg zu gründen und den Kreis Spotsylvania zusammenzukriegen. Und er und Missis Dorothy haben Newport gebaut und sechs Kinder gekriegt, und damit hat es angefangen, daß überall Waller-Kinder sind und groß werden und eigene Kinder haben. Unser Masser und die andern Wallers, die hier rum leben, die sind bloß ein paar von den vielen. Sind alles hochangesehene Leute, das. Sheriffs und Pastoren und Kreisbeamte und Abgeordnete und Ärzte, so wie der Masser. Und ’ne ganze Menge von ihnen hat in der Revolution gekämpft und Gott weiß was sonst noch alles getan.«
Kunta war von Bells Geschichte so gefesselt, daß er ganz verdutzt war, als sie plötzlich haltmachte. »Laß uns lieber zurückgehn«, sagte sie. »Wenn wir hier stundenlang in den Wiesen rumlatschen, verschlafen wir uns morgen früh bloß noch.« Und so kehrten sie um, und als Bell für eine Weile schwieg und auch Kunta nichts sagte, wurde ihr klar, daß er ihr, was immer er auf der Seele hatte, doch nicht sagen würde, so schwatzte sie, bis sie an ihrer Hütte angelangt waren, über alles, was ihr gerade in den Sinn kam; dort wandte sie sich ihm zu und schwieg. Er stand vor ihr und sah sie einen quälend langen Augenblick an, dann sagte er: »Also, es ist schon spät. Hast du ja auch gesagt. Bis morgen dann.« Als er, noch immer mit dem Pferdegeschirr in der Hand, davonging, sagte sie sich – und hatte Angst zu glauben, daß es das wäre, was sie vermutete –, er wird schon drauf zu sprechen kommen, wenn er will.
Es war ein Glück, daß Bell Geduld hatte, denn obwohl Kunta jetzt viel Zeit in ihrer Küche verbrachte, während sie ihrer Arbeit nachging, war doch sie es, die, wie üblich, das meiste sprach. Aber sie hatte es gern, wenn er so dasaß und zuhörte. Eines Tages sagte sie: »Ich hab entdeckt, daß der Masser in seinem Testament geschrieben hat, daß, wenn er nicht heiratet, bevor er stirbt, Missy Anne seine Sklaven kriegen soll. Aber es steht auch im Testament, daß, wenn er doch heiratet, dann kriegt uns seine Frau.« Trotzdem schien Bell nicht sonderlich besorgt. »Gibt hier ja ’ne Menge, die scharf genug auf den Masser sind, aber der hat nun mal nicht mehr geheiratet.« Sie machte eine Pause. »Genau wie ich auch nicht.«
Kunta ließ beinah die Gabel fallen. Er war ganz sicher, sie nicht mißverstanden zu haben, und es versetzte ihm einen Schock, zu erfahren, daß sie schon einmal verheiratet gewesen war, denn es schien völlig undenkbar, eine Frau zu nehmen, die keine Jungfrau mehr war. Er war im Nu aus der Küche heraus und in seiner eigenen Hütte verschwunden. Er wußte, daß er über diese Sache gründlich nachdenken mußte.
Es vergingen zwei schweigsame Wochen, bis Bell Kunta eines Tages einlud, abends in ihre Hütte zum Essen zu kommen. Er war so überrascht, daß er nicht wußte, was er sagen sollte. Er war noch nie mit einer anderen Frau als seiner Mutter oder seiner Großmutter allein in einer Hütte gewesen. Es wäre nicht recht. Aber während er
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