Wurzeln
diesem Tag an war der Fiedler ein anderer Mensch – freilich nicht heiterer als vorher, aber fürsorglich und rücksichtsvoll. Unermüdlich fuhr er den Masser Tag und Nacht durch den Distrikt, und wenn er zu Hause war, half er Bell bei der Pflege Kuntas und anderer Bewohner des Sklavenquartiers, die sich inzwischen ebenfalls angesteckt hatten.
Binnen kurzem erkrankten so viele Leute auf der Pflanzung und außerhalb, daß Masser Bell aufforderte, ihn als Helferin zu begleiten. Während er die Weißen verarztete, fuhr der junge Noah Bell im Maultierkarren bei den Schwarzen herum, deren Pflege ihr oblag. »Der Masser hat seine Medizin – ich hab meine«, vertraute sie dem Fiedler an. Nach Verabreichung der vom Masser verordneten Medikamente gab sie den Patienten nämlich insgeheim ein eigenes Gebräu aus pulverisierten Kräutern und Pflaumbaumrindenessenz; sie schwor darauf, dies wirke schneller und besser als sämtliche Mittel der Weißen. Aber wirkliche Heilkraft – flüsterte sie Schwester Mandy und Tante Sukey zu – habe natürlich nur das Gebet, das sie an jedem Krankenbett auf den Knien verrichtete. »Was Er dem Menschen schickt, kann Er auch wieder nehmen, wenn es Ihm gefällt«, sagte sie.
Allerdings starben einige ihrer Patienten dennoch, genauso wie die vom Masser.
Als Kuntas Zustand sich ungeachtet ihrer vereinten Bemühungen ständig verschlechterte, wurden Bells Gebete von Mal zu Mal inbrünstiger. Kuntas seltsame, wortkarge, widerborstige Art war vergessen, wenn sie, zu übermüdet zum Schlafen, jede Nacht an seinem Bett saß, wo er sich schweißgebadet wälzte, stöhnte und manchmal unter den Wolldecken, die sie auf ihn getürmt hatte, im Fieberwahn abgerissene, unverständliche Sätze vor sich hin murmelte. Bell hielt seine glühendheiße Hand und verzweifelte fast bei dem Gedanken, daß es erst dieser Prüfung bedurft hatte, um sie vollkommen erkennen zu lassen, was sie ihm vielleicht nie mehr sagen konnte: er war ein Mann von Würde und Charakterstärke, wie sie nie seinesgleichen gesehen hatte, und sie liebte ihn aus tiefstem Herzen.
Er lag schon drei Tage im Koma, als Missy Anne ihren Onkel besuchte und Kizzy mit ihrer Mutter, Schwester Mandy und Tante Sukey in der Hütte versammelt fand, alle weinend und betend. Selbst den Tränen nahe, eilte Missy Anne ins Herrenhaus zurück und sagte dem total erschöpften Masser Waller, sie brauche etwas aus der Bibel zum Vorlesen bei Kizzys Pappy. Sie wisse nur nicht, wo eine schöne passende Stelle sei; ob er ihr bitte eine zeigen würde? Den Masser bewegten die tränenverhangenen Augen seiner geliebten Nichte und ihr rührender Ernst; er raffte sich vom Diwan auf und nahm die große Familienbibel aus dem Schrank. Nach kurzem Besinnen schlug er ziemlich weit hinten eine Seite auf und deutete mit dem Zeigefinger auf die Stelle, wo sie beginnen sollte.
Im Sklavenquartier sprach es sich schnell herum, daß Missy Anne etwas vorlesen wollte, und so stand jeder, der noch auf den Beinen war, vor Bells und Kuntas offener Tür, als sie drinnen mit erhobener Stimme anfing: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele, er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.« Missy Anne pausierte, sah mit gerunzelter Stirn auf die Seite, und fuhr fort: »Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, im Schatten des Todes, so fürchte ich kein Unglück: denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Stab trösten mich.« Sie hielt wieder inne, diesmal, um Atem zu holen, und blickte unsicher in die schwarzen, auf sie gerichteten Gesichter.
Schwester Mandy konnte sich vor Rührung des Ausrufs nicht enthalten: »Herrgott, hört dieses Kind! Kaum erwachsen und kann schon so gut lesen!«
Aus dem lobenden Gemurmel hob sich noch die Randbemerkung von Ada, Noahs Mutter, hervor: »Ist wie gestern, wie sie noch in Windeln hier rumlief! Wie alt ist sie eigentlich?«
»Grad erst vierzehn geworden!« antwortete Bell so stolz, als handele es sich um ihre eigene Tochter. »Bitte noch ’n bißchen mehr, Schätzchen!«
Missy Anne, die bei all den Komplimenten leicht errötet war, las also den dreiundzwanzigsten Psalm zu Ende.
Dank Pflege und Gebet zeigten sich bei Kunta einige Tage danach erste Zeichen der Genesung. Bell wußte, daß er gesund werden würde, als er sie mit einem wütenden Blick maß und sich die gedörrte Kaninchenpfote sowie den Beutel mit Stinkwurz vom Hals
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