Wurzeln
sprach ein ernstes Wort mit Kunta. »Das ist kein Spiel mehr. Unser Kind kann jetzt schon mehr wie ich. Ich kann bloß hoffen, daß es gut und richtig für sie ist. Gott erbarm sich unser!«
Missy Anne kam auch weiterhin zu Besuch, meistens an den Wochenenden, doch nicht mehr jedes Wochenende, und nach einer Weile glaubte Kunta zu bemerken – falls nicht der Wunsch Vater des Gedankens war –, daß die Beziehung der beiden Mädchen sich zwar nicht direkt abkühlte, sie sich aber doch langsam auseinanderlebten, denn Missy Anne reifte allmählich zur jungen Dame heran; sie war schließlich vier Jahre älter als Kizzy.
Endlich rückte ihr langersehnter sechzehnter Geburtstag heran. Doch drei Tage vor der geplanten Party galoppierte die eigensinnige, hitzköpfige Missy Anne auf einem ungesattelten Kutschpferd zum Haus ihres Onkels und berichtete ihm unter Tränen, daß ihre kränkelnde Mutter wieder einmal die übliche Dauermigräne vorschütze, um Annes Geburtstagsfeier abzusagen. Anschließend beschwor sie ihn mit anmutigem Schmollen und Schmeicheln, ihre Party hier im Hause stattfinden zu lassen. Masser Waller, der ihr nie etwas abschlagen konnte, sagte natürlich ja. Und während Roosby Dutzende von eingeladenen Backfischen über den Ortswechsel in Kenntnis setzte, halfen Bell und Kizzy bei den gewaltigen Festvorbereitungen. Sie schafften es buchstäblich in letzter Minute, daß Missy Anne in großer Robe rechtzeitig zum Empfang ihrer Gäste bereitstand.
Aber vom Eintreffen des ersten Wagens an hatte sich Missy Anne benommen – so erzählte Bell Kunta später –, als kenne sie Kizzy überhaupt nicht. Kizzy mußte unablässig in gestärkter Schürze mit Tabletts die Runde machen und den Gästen Erfrischungen anbieten, »… bis das arme Kind sich in der Küche fast die Augen ausgeheult hat«. Kizzy weinte noch spätnachts in der Hütte, und Bell suchte sie zu trösten: »Guck mal, Liebling, sie ist jetzt eben erwachsen und ’ne junge Dame und hat andre Sachen im Kopf. Deswegen hat sie dich immer noch gern, sie meint’s ja nicht böse. So geht’s jedem von uns, wenn wir mit weißen Kindern groß werden – eines Tages muß jedes seinen eigenen Weg gehn, das ist nun mal nicht anders.«
In Kunta brodelten dabei ähnliche Gefühle wie einst, als er Missy Anne zum erstenmal mit dem Baby Kizzy im Körbchen spielen gesehen hatte. Während der zwölf Regen, die seither verflossen waren, hatte er immer wieder zu Allah gefleht, die Gemeinschaft zwischen dem toubob- Mädchen und Kizzy zu beenden – und obwohl seine Gebete nun erhört waren, schmerzte und kränkte es ihn, sie so tief verletzt zu sehen. Aber das war wohl notwendig gewesen, damit sie aus Erfahrung lernte und es sich für alle Zukunft merkte. Er meinte auch, Anzeichen dafür zu sehen, daß Bell von ihrer widerlichen Zuneigung zu der verlogen herablassenden »jungen Missy« kuriert war.
Missy Anne besuchte ihren Onkel jetzt seltener als früher, weil, wie Roosby Bell im Vertrauen sagte, »junge Massers« anfingen, ihre Zeit in Anspruch zu nehmen. Wenn sie kam, besuchte sie auch stets Kizzy, und meist brachte sie ihr ein abgelegtes Kleid mit, das Bell für Kizzy, die trotz des Altersunterschieds schon größer war, »auslassen« sollte. Übrigens verbrachten die beiden wie in stillschweigendem Einverständnis nur noch eine halbe Stunde miteinander; sie spazierten leise sprechend im Hof nahe dem Sklavenquartier umher, und dann fuhr Missy Anne wieder ab.
Kizzy sah ihr jedesmal regungslos nach, bis sie sehr rasch in die Hütte ging und sich, oft bis zum Abendessen, in Lese- und Schreibübungen versenkte. Dieser Zeitvertreib war Kunta noch immer unbehaglich, aber er sah ein, daß sie etwas haben mußte, was sie beschäftigte und von der verlorenen Kinderfreundschaft ablenkte. Seine Kizzy wurde nun selbst bald erwachsen, und er mußte sich darauf gefaßt machen, daß damit auf sie – und ihn – ein Lebensabschnitt voll ganz neuer Schwierigkeiten zukam.
Kurz nach Weihnachten des folgenden Jahres, 1803, brachte der Winter so hohe Schneewehen, daß die Landstraßen teilweise darunter verschwanden und für leichtere Wagen unpassierbar wurden. Wenn der Masser das Haus verließ – er folgte jetzt nur den dringendsten Hilferufen –, mußte er eines der Pferde reiten, und Kunta hatte mit Cato, Noah und dem Fiedler alle Hände voll zu tun, um wenigstens die Auffahrt schneefrei zu halten und Holz für die vielen Kamine zu hacken, deren Feuer jetzt nicht ausgehen
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