Wurzeln
beiden ihre Leidenschaft sehr geschickt verbargen. Im Grunde hatte er nichts dagegen einzuwenden, daß Noah und Kizzy zusammen spazierengingen oder Gebetsversammlungen besuchten; auch bei den Volksbelustigungen, die jeden Sommer stattfanden, war Noah als Tanzpartner sicherlich irgendeinem zudringlichen Fremden vorzuziehen. Schon möglich, daß Noah einmal, wenn beide einen oder zwei Regen älter waren, einen guten Gefährten für Kizzy abgab.
Allmählich wurde Kunta bewußt, daß Noah auch ihn beobachtete, und zwar ebenfalls recht intensiv, und er schloß mit einiger Nervosität daraus, daß der Junge im Begriff war, allen Mut zusammenzuraffen und ihn zu fragen, ob er Kizzy heiraten dürfe. An einem Sonntagnachmittag, Anfang April, kam es dann zur Aussprache. Masser Waller hatte nach der Kirche Gäste mit nach Hause gebracht, und Kunta putzte gerade vor der Scheune den Wagen der Besucher, als eine innere Stimme ihm aufzublicken befahl. Da sah er den dunklen, hochgewachsenen Noah zielbewußt auf dem Pfad herankommen. Als er vor Kunta stand, sagte er ohne Zögern, als hätte er die Sätze auswendig gelernt:
»Old Sörr, Ihr seid der einzige, dem ich trauen kann. Und irgendwem muß ich’s sagen. Ich kann nicht mehr so weiterleben. Ich will weglaufen.«
Kunta war so bestürzt, daß er zunächst keine Worte fand. Er sah Noah nur groß an. Dann stieß er hervor:
»Du wirst nicht mit meiner Kizzy weglaufen!« Es war keine Frage, sondern ein Befehl.
»Nein, Sörr. Ich will sie ja nicht ins Unglück bringen.«
Kunta wurde verlegen. Nach einer Weile sagte er ausdruckslos: »Jeder hat irgendwann mal das Gefühl, er muß weglaufen.«
Noah sah ihn forschend an. »Kizzy hat mir erzählt, Missy Bell hat ihr erzählt, Ihr wärt schon viermal weggelaufen.«
Kunta nickte. Sein Gesicht verriet nicht, daß er sich selbst im gleichen Alter sah: in der Fremde, verzweifelt, besessen von dem einzigen Gedanken: Renn um dein Leben! , Tag für Tag auf eine halbwegs brauchbare Möglichkeit wartend, Gelegenheiten ausspähend, jede Stunde eine Tortur … Zugleich schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß Kizzy offenbar nichts von Noahs Fluchtplänen wußte. Falls ihr geliebter Freund dann plötzlich verschwand, würde sie äußerst verstört sein – und dies schon so bald nach der herzzerreißenden Enttäuschung mit dem toubob- Mädchen. Aber das war leider unvermeidlich. Kunta wollte seine Antwort aus mehreren Gründen jetzt sehr sorgfältig abwägen.
»Ich kann dir nicht zuraten und nicht abraten«, sagte er langsam und ernst. »Aber du bist noch nicht bereit zum Weglaufen, wenn du nicht auch zum Sterben bereit bist, falls sie dich fangen.«
»Hab nicht vor, mich fangen zu lassen«, sagte Noah. »Hab gehört, die Hauptsache ist, dem Nordstern folgen. Und am Tag helfen weiße Quäker-Leute und freie Nigger beim Verstecken. Und wenn man bloß bis Ohio kommt, ist man frei.«
Wie wenig er weiß! dachte Kunta. Wie konnte sich ein vernünftiger Mensch die Flucht auch nur annähernd so einfach vorstellen? Aber dann fiel ihm wieder ein, wie jung Noah war – so jung wie er damals. Und wie die meisten hier geborenen Sklaven hatte Noah selten einen Fuß über die Grenzen der Pflanzung gesetzt. Das war der Grund, warum die meisten, besonders die Feldarbeiter, auf der Flucht so rasch ins Netz der Verfolger gingen – von Dornen blutend, halb verhungert, erschöpft vom Herumstolpern in Wäldern und Sümpfen, wo es von Wasser- und Klapperschlangen wimmelte. In Sekundenbruchteilen erinnerte sich Kunta an alles – das Rennen, die Hunde, die Schüsse, die Peitschen – die Axt.
»Du weißt nicht, wovon du redest, Junge!« fauchte er, bereute die barschen Worte aber fast schon, ehe sie ganz heraus waren. »Ich meine – stell dir’s nicht so leicht vor! Hast du schon mal was von Bluthunden gehört?«
Noahs Hand glitt in die Tasche und zog ein Messer hervor. Er ließ es aufschnappen; die scharfgeschliffene Klinge glänzte matt. »Schätze, tote Hunde fressen keinen.« Hatte Cato nicht einmal gesagt, dieser Junge fürchte sich vor nichts? »Mich kann nichts mehr aufhalten«, sagte Noah, klappte das Messer zu und steckte es wieder in die Tasche.
»Gut, wenn du weglaufen mußt, mußt du eben weglaufen«, sagte Kunta.
»Weiß noch nicht genau, wann«, sagte Noah. »Weiß nur, daß ich weglaufen muß.«
Kunta vergewisserte sich mit einigem Unbehagen: »Hauptsache, Kizzy wird nicht in die Sache mit reingezogen.«
Noah schien nicht beleidigt zu
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