Wurzeln
kündigte Tom an, daß jeder mitkommen dürfe – vorausgesetzt, es sei pro Familie wenigstens ein Wagen vorhanden. Als nun achtundzwanzig Wagen beladen und fertiggemacht waren, um am nächsten Morgen loszufahren, nahmen die jetzt freien Leute feierlich Abschied von den vertrauten Dingen, die sie nicht mitnehmen konnten: Waschbecken, die Zaunpfähle – wohl wissend, daß es das letzte Mal sein würde.
Tagelang hatten die schwarzen Murrays kaum etwas von den weißen Murrays gesehen.
Matilda weinte.
»Gott, ich hasse es, dran zu denken, was sie jetzt durchmachen müssen, das schwör ich euch.«
Tom Murray hatte sich schon für die Nacht in das Innere seines Wagens zurückgezogen, als er ein leichtes Klopfen an der hinteren Wagenklappe hörte. Irgendwie ahnte er, wer das sein mußte, noch bevor er die Klappe öffnete. Old George Johnson stand da, mit bewegter Miene, seine Hände zerdrückten fast den Hut.
»Tom, würd gern ein Wort mit dir reden – falls du Zeit hast.«
Tom kletterte aus dem Wagen und folgte Old George Johnson den Weg hinunter im hellen Mondlicht. Als Old George schließlich anhielt, war er so gehemmt vor Verlegenheit und Erregung zugleich, daß er kaum sprechen konnte.
»Ich und Martha – wir haben uns unterhalten – ihr seid doch die einzigen Menschen, die wir haben. Tom, versteh mich recht – dürfen wir nicht dorthin mitkommen, wohin ihr geht?«
Tom antwortete nicht sofort.
»Wenn es sich nur um meine Familie handeln würde, würd ich dir auf der Stelle antworten. Aber hier geht es um mehr. Ich muß mit allen drüber sprechen. Ich werd dir Bescheid sagen.«
Tom ging von Wagen zu Wagen. Er klopfte leise und bat die Männer heraus. Als alle versammelt waren, berichtete er ihnen, um was es ging. Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Tom Murray schlug vor: »Er war wohl der beste Aufseher, den man sich denken kann, obwohl er natürlich nicht wirklich Aufseher war. Eigentlich hat er mit uns geschuftet, Schulter an Schulter.«
Es erhob sich scharfe Opposition, teils aus allgemeiner Abneigung gegen die Weißen. Aber dann ließ sich eine ruhige Stimme vernehmen: »Er kann nichts dafür, daß er weiß ist –«
Endlich wurde abgestimmt, und eine Mehrheit war dafür, die Johnsons mitzunehmen.
Es bedeutete einen Tag Verzögerung, einen Wagen für Old George und Martha herzurichten. Aber beim nächsten Sonnenaufgang setzte sich die Karawane in Bewegung. Neunundzwanzig bedeckte Planwagen, in einer langen Reihe, verließen knarrend, ächzend und rumpelnd die Farm der Murrays in westlicher Richtung. An der Spitze ritt der siebenundsechzig Jahre alte Hühner-George mit seinem dunklen Hut und flatterndem Schal, vor sich auf dem Sattel seinen alten, inzwischen einäugig gewordenen Kampfhahn »Old Bob«. Ihm folgte Tom Murray im ersten Wagen, an seiner Seite Irene, hinter beiden ihre Kinder mit vor Aufregung blanken Augen, das jüngste die zwei Jahre alte Cynthia. Und nach einer langen Kette von achtundzwanzig weiteren Wagen, gelenkt von schwarzen Männern oder auch von Mischlingen, immer mit ihren Frauen, beschlossen Old George und Martha Johnson den Zug. Es war kaum möglich, durch den Staubschleier, den die Hunderte von Hufen und Wagenrädern aufwirbelten, vorn, also westlich, überhaupt etwas Genaues zu erkennen, dort nämlich, wo nach Hühner-Georges Versprechen das Ziel liegen mußte, jenes verheißene Land.
Kapitel 114
»Ist es das?« erkundigte sich Tom.
»Das Gelobte Land?« fragte Matilda.
»Wo die Schweine und die Wassermelonen nur so aus dem Boden schießen?« wollte eines der Kinder wissen, als Hühner-George sein Pferd zum Stehen brachte.
Vor ihnen lag eine Waldlichtung; und genau an der Stelle, wo ihre Straße einen anderen Weg rechtwinklig kreuzte, erhoben sich ein paar hölzerne Ladenfronten. Drei weiße Männer saßen da herum, einer auf einem Nagelfaß, ein zweiter in seinem Schaukelstuhl, der dritte kippelte auf den hinteren Beinen eines Hockers, den Rücken an die Schindeln der Seitenwand gepreßt, die Füße auf dem Geländer, an dem man die Pferde anzubinden pflegte. Als sie die völlig verstaubte Wagenkarawane mitsamt ihren Passagieren sahen, stießen sie sich an und nickten. Ein paar weiße Jungen, die beim Reifenspiel herumgetollt waren, glotzten. Der Reifen hüpfte noch ein Stück weiter, bis er trudelnd in der Mitte der Straße zu Boden fiel. Ein älterer Schwarzer war dabei, den hölzernen Gehsteig zu fegen. Ausdruckslos starrte er eine Weile auf die
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