Xeelee 2: Das Geflecht der Unendlichkeit
fortsetzen, bis ihre Lungen die letzten paar Sauerstoffmoleküle aufsogen? Sie versuchte, die Luft zu schmecken, festzustellen, ob sie noch dünner wurde; aber sie konnte es beim besten Willen nicht feststellen.
Das Erd-Schiff breitete sich wie ein Diagramm vor ihr aus. Sie sah an der flachen, vierhundert Meter durchmessenden Kuppel aus taubengrauem Xeelee-Werkstoff hoch, die das Kernstück des Schiffes bildete. Die Kuppel wurde durch kreisförmige, etwa einen Meter breite Luken unterbrochen, die Pooles Schilderungen zufolge die Mündungen der Singularitätenkanonen darstellen mußten. Die Kuppel erinnerte sie irgendwie an ein altes Sportstadion, das aus der Erde Terras gerissen und kopfüber in einen Orbit um den Jupiter gebracht worden war; doch auf der Grundfläche dieses Stadions befand sich eine Ansammlung von Gebäuden aus Xeelee-Werkstoff und das verwitterte, antike Stonehenge. Dicht an der Kante des Landstrichs konnte sie ihre beiden Verfolger ausmachen; sie klammerten sich wie zwei rosa schillernde Fliegen an das Gras und starrten zu ihr herauf; ihre Gewehre wurden durch die invertierte Gravitation auf den Rasen gepreßt.
Über dem Erd-Schiff kletterte das Spline-Kriegsschiff in den Himmel, wobei Jupiter lange, gesprenkelte Lichtbahnen auf seine Elefantenhaut warf.
Jetzt raunte eine kaum wahrnehmbare Brise in ihren Ohren, als das schwache, komplexe Schwerefeld des Erd-Schiffes sie wieder in den künstlichen Himmel zurückholte. Eine Woge der Erleichterung überkam sie. Nun, wenigstens würde sie nicht an Sauerstoffmangel sterben müssen, als kleiner Satellit des Jupiter.
Das Erd-Schiff schien von ihr wegzukippen und ließ nur noch die Sicht auf den oberen Teil der Kuppelsektion frei; die Rasenfläche war überhaupt nicht mehr zu sehen. Bald wurde sogar das Spline-Schiff von seiner Masse verdeckt.
Für einen merkwürdigen kurzen Moment war sie allein. Sie hing in einer Blase aus klarer blauer Luft; Schäfchenwolken durchzogen den Himmel und legten sich über die Kante des Erd-Schiffes. Es herrschte völlige Stille. Es war fast friedlich. Sie verspürte keinerlei Angst oder Bedauern; der Ablauf der Geschehnisse stand jetzt nicht in ihrem Ermessen, und sie konnte nicht mehr tun, als sich zu entspannen, sich von den Ereignissen treiben zu lassen und entsprechend zu reagieren. Sie versuchte, alle Gedanken zu verdrängen und sich nur auf jeden schmerzenden Atemzug zu konzentrieren.
Jetzt wehte eine stärkere Brise über ihr Gesicht; sie spürte, wie sie an ihrem kurzen Haar zupfte, und ihre lockere Springerkombination bauschte sich leicht um Brust und Beine.
Sie inspizierte die Kuppel jetzt gründlicher und konzentrierte sich auf die nächstgelegene der scheinbar wahllos verteilten Mündungen der Singularitätenkanonen, die etwa zweihundert Meter landeinwärts vom Rand des Schiffes plaziert war. Durch einen Größenvergleich mit ihrem Daumennagel stellte sie fest, daß die Öffnung sich vergrößerte. Es war wie ein großer, sich öffnender Mund.
Sie seufzte mit einem leichten, merkwürdigen Bedauern. Soviel zu ihrem kleinen Zwischenspiel in der Luft; es schien, als ob die Ereignisse sie wieder in ihren Bann ziehen würden.
Jetzt befand sich die aus grauem Material gegossene Kuppel wie ein gefräßiger Schlund unter ihr; sie würde in etwa zwanzig Metern Höhe über dem grasbestandenen Rand des Schiffes auftreffen. Genug, um sie böse zu verletzen. Sie versuchte, sich im stärker werdenden Wind zu orientieren, winkelte Arme und Beine leicht an und hielt die Hände vors Gesicht.
Michael schlug die Augen auf.
Er atmete wieder normal. Gott sei Dank. Er genehmigte sich einen tiefen Atemzug sauerstoffreicher, warmer Luft.
Er lag in dem Metallkasten, der die Luftschleuse des Bootes darstellte. Der Boden unter ihm war weich… zu weich. Er tastete mit der rechten Hand neben sich herum und stellte fest, daß sich der Metallboden ein paar Zentimeter unter seinem Rücken befand; unwillkürlich bugsierte er sich noch etwas höher in die Luft.
Schwerelosigkeit. Sie waren im Weltraum.
Als er den Kopf drehte, schmerzten Schultern, Brust und Hals noch immer von der Anstrengung in der dünnen Luft der Erd-Schiffes. Neben ihm hatte sich Shira zu einem Fragezeichen zusammengekrümmt, und das diffuse Licht der Schleuse erhellte die elegante Wölbung ihres Kopfes. Ihr Gesicht wirkte sehr jung im Schlaf. Bluttröpfchen traten aus ihren Ohren und schlugen unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit gewundene Bahnen
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