Xeelee 3: Ring
nächsten Flügels stehen. Die Schwinge hing scheinbar freischwebend etwa einen Meter über dem Eis; vielleicht war sie so leicht, daß sie außer der Verbindung mit dem Schiffsrumpf nicht weiter abgestützt werden mußte, überlegte Seilspinnerin. Hinter der Vorderkante krümmte sich die Schwinge leicht, wie eine langsame, gefrorene Rauchwolke; ihre perspektivisch verkürzte Form hob sich scharf gegen den hellen eisigen Hintergrund von Callisto ab, aber wegen ihrer absoluten Schwärze war es schwierig, den Krümmungsradius abzuschätzen. An der Hinterkante des Flügels war das Material so filigran, daß Seilspinnerin – sie bückte sich und schaute nach oben – durch die Struktur des Flügels hindurchsehen und das Glühen der geschrumpften Sterne erkennen konnte.
»Von der Form her erinnert mich das Schiff an einen Platanensetzling.« Louise schaute zu Seilspinnerin hinüber. »Habt ihr auch Platanen in eurem Wald? – Ich weiß schon gar nicht mehr, wie sie überhaupt aussehen. Aber egal. Das sind diese lieblichen Schwingen, die eine Spannweite von hundert Metern haben. Die kleine Pilotenkanzel ist zentral auf den ›Schultern‹ des Schiffes angeordnet – der Basis der Flügel.«
Lieblich, hatte Louise befunden. Nun, so überlegte Seilspinnerin, möglicherweise traf das hier in gewisser Weise auch zu – aber es war eine Schönheit, die absolut unmenschlich und bedrohlich war.
»Das ist kein menschliches Schiff«, sagte sie langsam. »Nicht wahr, Louise?«
»Nein.« Louise ließ die Schultern hängen. »Verdammt«, meinte sie säuerlich. »Da finden wir nun ein vollständig erhaltenes Artefakt in den Trümmern des Sonnensystems, und es muß ausgerechnet ein Alien-Raumschiff sein…
Seilspinnerin, wir nehmen an, daß es ein Raumschiff der Xeelee ist. Wir haben die alten Projektionen von Suprahet konsultiert; wir glauben, daß es sich hier um etwas handelt, das die Freunde von Wigner – die Leute aus der Besatzungszeit der Qax – als Nightfighter bezeichnet hatten. Ein kleines, sehr mobiles Mehrzweck-Aufklärungsschiff.«
Die Vorderkante eines Flügels des Platanensetzlings befand sich in Louises Augenhöhe; sie hob die behandschuhte Hand und wollte schon mit der Fingerspitze an der Kante entlangfahren, dann zog sie die Hand versonnen zurück. »Ich empfehle dir, nichts zu berühren, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Dieses Material ist scharf. Die Flügel und der Rumpf bestehen wahrscheinlich aus Xeelee-Werkstoff.«
Sie zog den Kopf ein und inspizierte die Oberfläche des Flügels. Seilspinnerin mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihrem Beispiel zu folgen. Als sie es endlich geschafft hatte, die Schwinge zu überschauen, schien der Werkstoff der Xeelee zu verschwimmen, so fein war er strukturiert. Sogar aus nächster Nähe war er tiefschwarz und reflektierte weder das Eis noch die Jupiterringe darüber. Es wirkte absolut nicht real, dachte sie; es war, als ob ein Stück aus der Welt herausgeschnitten worden und dieses Loch zurückgeblieben wäre – dieser Defekt.
»Diese Substanz widersetzt sich jeder Analyse«, sagte Louise. »Uvarov und Mark glauben, daß der Werkstoff aus einer Schicht gebundener Nukleonen besteht – die durch die starke Kernkraft miteinander verbunden sind, quasi wie ein riesiger, isolierter Atomkern.
Aber ich bin mir da nicht so sicher. Zumal die Dichte nicht stimmt. Ich habe eine eigene Theorie: Daß wir es nämlich mit etwas Fundamentalerem zu tun haben. Ich vermute, daß es den Xeelee gelungen ist, das Pauli-Prinzip außer Kraft zu setzen und damit eine ganz neue Qualität der Materie zu erschließen. Das Problem bei dieser Theorie besteht natürlich darin, daß das Ausschließungsprinzip überhaupt keine Schlupflöcher aufweisen dürfte. Nun, ich schätze, daß niemand die Xeelee darauf hingewiesen hat…«
»Wie haben sie dieses Zeug hergestellt?«
Louise lächelte. »Wenn man den alten Rekonstruktionen von Suprahet Glauben schenken will, dann haben sie es gezüchtet, aus ›Blumen‹.« Unter der Einwirkung von Strahlungsenergie sproß der Werkstoff einfach wie Blüten aus den Blumen.
»Es würde mich interessieren zu erfahren, wie dieses Schiff überhaupt nach Callisto gekommen ist«, sagte sie. »Die Erbeutung eines Xeelee-Raumers mußte für die Menschen aller Zeitalter doch ein großer Triumph gewesen sein.
Uvarov glaubt, daß dieser Mond als Labor gedient hatte. Dieser Ort, weit entfernt von den besiedelten Kolonien, war eine Werkstatt – ein sicherer
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