Xeelee 3: Ring
Gesicht und spritzte auf die runde Brille. Sie würde mehr als genug haben, die beiden ledernen Beutel an der Hüfte zu füllen.
Dann, als sie auf ihrem Ast hockte und den Honig aß, merkte sie, daß sie zitterte. Sie runzelte die Stirn. Warum sollte sie denn frieren? Es war ja noch nicht einmal Mittag.
Sie verdrängte die merkwürdige Empfindung.
Auf einem nahegelegenen Baum, hundert Meter von Seilspinnerin entfernt, saß ein Mann. Er trug eine verschlissene Kombi, und sein Gesicht wirkte müde und faltig unter einem grauen Haarschopf. Er aß auch etwas: Eine Frucht, eine Yam vielleicht. Er lächelte und winkte ihr zu.
Er war ein Freund. Sie winkte zurück.
Sie wusch sich das Gesicht in einer Wasserlache im Inneren einer Bromelie ab und kletterte dann wieder auf den Boden hinab.
Sie rannte leichtfüßig über den ebenen, laubbedeckten Boden des Waldes. Sie wußte, daß Pfeilmacher sich um seine Bambuspflanzungen kümmern würde; es gab nur ein paar Orte, an denen die Spezies gedieh, welche die zwei Meter langen, geraden Rohre lieferte, die Pfeilmacher zur Fertigung seiner Blasrohre benötigte, und er kultivierte diese Bestände mit liebevoller Sorgfalt und bewachte sie eifersüchtig vor seinen Rivalen. Seilspinnerin wollte zu ihm hinlaufen, um ihm den Honigreichtum zu präsentieren, den sie gefunden hatte, und dann…
Seilspinnerin. Ich weiß, daß du wach bist.
… und dann…
Komm schon, Seilspinnerin, sprich mit mir.
Seilspinnerin kam zum Stehen.
Mit Bedauern schaute sie noch einmal auf den Honig, den sie nicht würde genießen können, und erteilte einen leisen, subvokalen Befehl.
Aus der Luft materialisierte der Schutzanzug wie ein aus silberfarbenem Tuch bestehendes Gewebe über ihrem Körper, und der klobige Sitz materialisierte unter ihr. Wie ein Totenkopf, der durch verwesendes Fleisch stach, drängten sich die Dunkelheit des Weltraums und die grellen Statuslampen ihrer Waldos durch den Waldtraum.
»Seilspinnerin. Seilspinnerin.«
Ihr Herz schlug so schnell wie das eines Vogels. »Ja, Louise.«
»Es tut mir leid, daß ich dich auf diese Art aus deinem Traum reißen mußte. Aber ich hatte den Eindruck, daß du… äh… nicht mehr zu uns zurückkommen wolltest.«
Seilspinnerin grunzte, als der Anzug seine alltägliche Ultraschall-Wäsche durchführte. »Nun, willst du mir meinen Fluchtversuch etwa zum Vorwurf machen?« Sie ließ die Trostlosigkeit außerhalb des Käfigs auf sich einwirken. Wie wundervoll war es doch gewesen, wieder zehn Jahre jung zu sein und an nichts anderes zu denken, als einen Tag mit ihrem Vater auf Froschfang zu gehen! Aber sie war keine zehn Jahre mehr; über fünf Jahrhunderte waren seit diesen Tagen der Honigsuche vergangen, und seitdem war ihr eine gewaltige Verantwortung aufgebürdet worden. Das erneute Bewußtsein, wer sie war, legte sich wie ein fühlbares Gewicht auf sie: Ein Gewicht, das sie schon die ganze Zeit mit sich herumgeschleppt hatte – dessen Existenz sie aber vergessen hatte.
Sie erzitterte wieder – und verspürte plötzlich ein intensives Gefühl der Gefahr. Sie zischte kurze subvokale Kommandos und rief eine Anzeige der Lufttemperatur ihres Schutzanzuges auf. Es waren etwa achtzehn Grad Celsius. Nicht unbedingt eiskalt, aber dennoch spürbar kühl. Sie rief auf dem Helmvisier eine Grafik auf, welche die Temperaturschwankungen des Anzuges während der letzten paar Tage darstellen sollte.
Die im Traum verspürte Kälte war real. Die Anzugtemperatur hatte sich verändert. Für über eine Woche hatte sie fünfundzwanzig Grad betragen – ganze sieben Grad wärmer als heute.
»Louise«, sagte sie ernst.
Sie hörte Louise seufzen. »Ich höre, Seilspinnerin.«
»Was, zum Teufel, ist los? Was hattet ihr vor? Mich bei lebendigem Leibe zu rösten?«
»Nein, Seilspinnerin. Schau, wir verstehen jetzt – vielleicht etwas spät –, wie hart dieser Flug für dich ist. Jetzt wünschte ich, daß wir eine andere Lösung gefunden hätten: Vielleicht eine Ablösung für dich. Aber dazu ist es jetzt zu spät. Wir befinden uns nun in einer Situation, in der wir sehr von dir und deinem weiteren guten Funktionieren draußen in diesem Käfig abhängen, Seilspinnerin.«
»Und die Wärme?«
»Wärme wirkt wie ein leichtes Sedativ, Seilspinnerin. Solange die Balance deiner Körperflüssigkeit nicht beeinträchtigt wird – und wir überwachen das –, kann eigentlich nichts passieren. Ich hielt es für eine gute Lösung des Problems…«
Seilspinnerin rieb die
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