Xeelee 5: Vakuum-Diagramme
»Merkur hat also nicht allzu viel mit dem Mond gemeinsam… Schauen Sie. Von hier aus können Sie Thoth sehen.«
Sie schaute hoch und folgte mit dem Blick seinem ausgestreckten Arm. Dort, knapp über dem Horizont stand ein kleiner blauer Stern.
Sie ließ das Bild vom Helmvisier vergrößern. Der Stern explodierte zu einer kompakten Skulptur aus xenonblauen Fäden, die von glühwürmchenartigen Lichtern umgeben wurden: die Baustelle von Thoth.
Thoth war ein Habitat, das in einen engen Orbit um Sol gebracht werden sollte. Irina Larionova war die von Suprahet engagierte beratende Ingenieurin, die die Konstruktion des Habitats überwachen sollte.
Die Mission von Thoth bestand darin, die Fehlerquelle in der Sonne aufzuspüren.
Vor kurzem waren Anomalien im Verhalten der Sonne beobachtet worden; einige Prozesse in ihrem Innern schienen von den Standardmodellen abzuweichen, und zwar erheblich. Suprahet war ein lockerer Zusammenschluss von Interessengruppen auf der Erde und dem Mars, der sich mit Problemen befasste, die das langfristige Überleben der menschlichen Spezies gefährden konnten.
Und Probleme im Innern des einzigen Sterns der Menschheit fielen eindeutig in die Kategorie von Dingen, die für Suprahet interessant waren.
Irina Larionova hatte nicht viel übrig für Suprahets halbmystische Philosophie. Es war die Arbeit, die ihr wichtig war: Und die von Thoth aufgeworfenen Konstruktionsprobleme waren wirklich faszinierend.
Auf Thoth würde eine Sonnen-Sonde entwickelt werden. Bei dieser Sonde würde es sich um ein mit Sensoren bestücktes Interface eines Wurmloch-Terminals handeln. Das Interface würde dann in der Sonne versenkt werden. Das andere Interface würde im Orbit verbleiben, im Zentrum des Habitats.
Die xenonblauen Balken, die sie nun sehen konnte, waren Verstrebungen aus exotischer Materie, die schließlich die Wurmloch-Endstellen einfassen würden. Die um die Verstrebungen kreisenden Lichtpunkte waren GUT-Schiffe und Kurzstrecken-Schlepper. Sie starrte auf die Darstellung und wünschte, sich wieder an eine reale Arbeit begeben zu können.
Irina Larionova hatte eigentlich gar nicht vorgehabt, Merkur zu besuchen. Merkur hatte für Thoth nur periphere Bedeutung. Weshalb sollte überhaupt jemand auf Merkur landen, wenn kein triftiger Grund dafür vorlag? Merkur war ein Stück Schrott, eine desolate Kugel aus Eisen und Fels, die zu dicht an der Sonne kreiste, als dass sie überhaupt von Interesse oder auch nur ansatzweise bewohnbar gewesen wäre. Die beiden Forschungsteams von Thoth waren ausschließlich aus wirtschaftlichen Erwägungen hergekommen: Sie wollten überprüfen, ob es möglich war, Rohstoffe aus Merkurs flacher – und leicht zugänglicher – Gravitationsquelle zu gewinnen und sie für die Errichtung des Habitats zu verwenden. Die Teams waren am Südpol gelandet, wo Spuren von Wassereis entdeckt worden waren, und im Caloris-Becken, dem riesigen Äquatorialkrater, wo – so hoffte man zumindest – jener uralte Einschlag vielleicht Eisenerz an die Oberfläche gebracht hatte.
Die Schlepper von Thoth stellten mithin die größte Expedition dar, die jemals auf Merkur gelandet war.
Aber schon wenige Tage nach der Landung hatten beide Forschungsteams Anomalien gemeldet.
Larionova tippte auf die Ärmelkontrollen ihres Schutzanzugs. Nach ein paar Minuten erschien das Bild von Dolores Wu in einer Ecke von Larionovas Helmvisier. Hallo, Irina, sagte sie, wobei ihre Stimme wie ein Insekt in Larionovas engem Helm summte.
Dolores Wu war die Leiterin des Thoth-Forschungsteams in Caloris. Wu war eine kleinwüchsige Mars-Geborene, deren Haar trotz der AS-Therapie ergraut war. Sie sah müde aus.
»Wie läuft’s in Caloris?«, fragte Larionova.
Nun, viel haben wir bisher nicht zu melden. Wir haben beschlossen, mit einer detaillierten gravimetrischen Untersuchung zu beginnen…
»Und?«
Wir haben das Einschlagsobjekt gefunden. Glauben wir jedenfalls. Es ist so massiv, wie wir vermutet haben, aber viel – viel – zu klein, Irina. Es hat nicht einmal einen Durchmesser von anderthalb Kilometern und damit eine viel zu hohe Dichte, um ein planetarisches Fragment darzustellen.
»Ein Schwarzes Loch?«
Nein. Dafür ist seine Dichte wiederum zu gering.
»Was dann?«
Wu wirkte echauffiert. Wir wissen es noch nicht, Irina. Wir haben keine Antworten. Ich halte Sie auf dem Laufenden.
Wu deaktivierte die Verbindung.
Larionova stand auf der von der Corona angestrahlten Wand des Chao-Meng-Fu-Kraters und
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