Xperten - Der Anfang: Kurzgeschichten
nicht mehr werden lesen können. Lesen ist weiterhin notwendig, wird auch weiterhin unterrichtet werden. Aber genau so, wie jeder von uns zum Beispiel eine Kuh als solche erkennt, aber nur wenige von uns eine Kuh gut zeichnen können, werden alle Menschen Buchstaben und Zeichen wie zum Beispiel A oder R zwar jederzeit richtig erkennen, werden sie aber nur langsam und unsicher schreiben (»abzeichnen«) können. Nicht nur werden das zukünftige Menschen kaum je geübt haben, viele werden Schreiberwerkzeuge wie Bleistift oder Kugelschreiber noch nie in der Hand gehabt haben; sie werden als interessante Ausstellungsstücke gleich neben dem Federkiel ihren Platz in vielen Museen haben.
Jeder, der entsetzt ist von der Vision, dass die Menschheit eines Tages nicht mehr das Schreiben beherrschen wird, soll bedenken, dass das Schreiben eine junge Kunst ist … Was sind schon 5.000 Jahre im Vergleich zur Dauer der Menschheitsgeschichte! Die weite Verbreitung des Schreibens ist überdies noch viel jünger, sie gibt es in Europa erst seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht seit ca. 200 Jahren. Keine Panik also, das Ende der Zeit, in der jedermann schreiben konnte, ist nur das Ende eines 200- bis 300-jährigen Intermezzos, in dessen Verlauf von relativ natürlichen Schreibgeräten (wie Kreide oder Federkiel und Tinte aus Galläpfeln) auf so hoch technisierte Produkte wie Bleistift und Kugelschreiber und nun als nächster Schritt eben auf Computer mit Spracheingabe übergegangen wird.
Schreiben (langsamer als Reden) und Lesen (schneller als Zuhören) in einer bestimmten Schrift stellt einen gewissen Kompromiss dar. Macht man die Schrift noch komplizierter, wird dadurch das Schreiben noch langsamer, das Lesen aber noch schneller. Je mehr das Schreiben an Bedeutung verliert, umso mehr werden komplexe Bildsymbole lange Worte ersetzen. Die Schrift wird durch zusätzli che Symbole erweitert, die das Lesen zwar komplizierter machen, aber auch noch schneller (und internationaler). Wer an Verkehrszeichen denkt oder an Hinweise auf »Tankstelle«, »Restaurant«, »Flughafen«, »Telefonzelle mit Wertkarte«, »WC für Behinderte« usw., die nicht durch Worte, sondern durch Symbole ausgedrückt werden, erkennt deutlich, dass wir uns schon auf dem Wege befinden, unser Buchstabenalphabet durch viele Hunderte Bildsymbole zu erweitern, im Sinne einer noch schnelleren Kommunikation. Wie weit das vielleicht einmal gehen wird beschreibt der Beitrag 11.4: »MIRACLE«.
4.2 Das fehlende Organ
Wir haben Ohren, um zu hören: rein passive Sinnesorgane zum Empfangen von Geräuschen. Und wir haben den Mund als aktives Gegenstück. Mit ihm können wir konkrete Geräusche (Sprache) oder abstrakte Geräusche (Musik) herstellen. Die Ohren gelten allgemein als das zweitwichtigste Sinnesorgan.
Unser wohl wichtigstes Sinnesorgan sind die Augen: rein passive (rezeptive) Einrichtungen zum Empfangen von bildlichen Eindrücken; das aktive Gegenstück zu den Augen jedoch fehlt uns. Wir haben kein Organ, mit dem wir konkrete oder abstrakte Bilder bzw. bewegte Bilder erzeugen können!
Mancher mag vorschnell argumentieren, dass wir doch in der Lage sind, visuelle Signale herzustellen. Wir können gestikulieren, wir können Grimassen schneiden, unsere »Körpersprache« bringt oft bewusst oder unbewusst unsere Gefühle oder Reaktionen zum Ausdruck usw. Tatsächlich aber handelt es sich dabei um »sekundäre« visuelle Informationen, ähnlich wie wir auch ohne Mund sekundäre akustische Signale aussenden können, indem wir in die Hände klatschen, mit den Füßen auf den Boden stampfen oder mit der Hand auf den Tisch hauen.
Es verbleibt die unbestreitbare Tatsache, dass die Menschheit mit dem furchtbaren Handicap leben muss, dass es ihr unmöglich ist, für das mächtigste unserer Sinnesorgane einigermaßen direkt Informationen bewusst anzubieten. Die Meistermaler der Vergangenheit haben verzweifelt versucht, diese Lücke zu schließen, indem sie Kunstwerke aller Art schufen; und technologische Entwicklungen wie Fotografie oder Film- und Videokunst erlauben es heute zumindest, gewisse (auch bewegte) bildliche Situationen zu produzieren und zu archivieren. Der durchschlagende Erfolgszug des Fernsehens ist nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen, dass damit erstmals der Heißhunger unseres besten Sinnesorgans einigermaßen gestillt werden kann … im Allgemeinen zweifellos mit recht fragwürdigen Angeboten.
In einem gewissen Sinne ist das fehlende
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