Xperten - Der Anfang: Kurzgeschichten
fehlende Organ allmählich durch technische Krücken zu ersetzen?
Mehr noch, ich behaupte, diese Krücken entstehen bereits: als Präsentationsgrafik-, Multimedia- und Unterrichtssysteme auf modernen Computern mit modernen Programmpaketen.
Der Aufwand, gute Präsentationsgrafik (inklusive Bewegungsvorgänge) für zum Beispiel Vorträge zu erstellen, ist aber noch immer so groß, dass man solche Grafiken zwar zunehmend als Vortragsunterstützung verwenden kann, jedoch noch nicht für die zwischenmenschliche Kommunikation in »Echtzeit«.
Es ist aber nicht undenkbar, dass wir eines Tages so mächtige Computer mit umfangreichen Bildarchiven und Hilfsmitteln zur Verfügung haben werden, dass viele »gedankliche Bilder« schnell genug erstellt werden können, um sie selbst während einer Diskussion und zur Unterstützung dieser einsetzen zu können: Vortragende verwenden seit Jahrzehnten schon Tafeln oder Flipcharts, auf denen sie oft mit ein paar Strichen etwas skizzieren und damit Ideen schneller und besser zum Ausdruck bringen als durch noch so längliche sprachliche Erklärungen. Es liegt auf der Hand, dass die immer besser werdenden Werkzeuge auf grafischen Computerarbeitsstationen, unterstützt von riesigen Multimedia Bibliotheken (deren digital gespeichertes Material in Sekundenschnelle für die vorliegende Situation modifiziert werden kann), uns sehr viel bessere Hilfsmittel für Erläuterungen und Diskussionen anbieten werden, als uns dies heutige Techniken gestatten. Computertechnologie wird uns eine allmählich besser werdende Krücke für das fehlende Organ liefern, wird die zwischenmenschliche Kommunikation und Information (also vor allem auch jede Art von Unterricht) dramatisch verbessern. Die dadurch entstehende neue Art der Informationsweitergabe und Informationsarchivierung wird offenbar das klassische Verfahren für den Wissenstransport – die Schrift – tief beeinflussen.
4.4 Das Ende der Schrift?
Schon vorher habe ich argumentiert, dass in nicht allzu ferner Zukunft das Schreiben (mit einem Schreibgerät oder auf einer Tastatur) zugunsten sprachlicher Eingabe von Text deshalb aussterben wird, weil der Mensch schneller redet, als er schreiben kann. Ich habe gleichzeitig argumentiert, dass das Lesen (weil schneller als Zuhören!) sehr viel bessere »Überlebenschancen« hat. Tatsächlich ist die Situation aber dramatischer. Ich behaupte, dass auch die Bedeutung des Lesens rapide abnehmen wird. Überspitzt formuliert betrachte ich die Schrift als ein rasch veralterndes Phänomen, das zwar eine Zeit lang gute Dienste geleistet hat, aber nun im Begriff steht, durch bessere Informations- und Kommunikationsmedien ersetzt zu werden.
Die Prognose, dass die Schrift zum Aussterben (bzw. zur Bedeutungslosigkeit) verurteilt ist, stößt stets auf sofortige und heftige emotionelle Reaktionen. Dies liegt in erster Linie daran, dass wir instinktiv an die »Gleichung« »Schrift = Kultur = hoch stehende Zivilisation« glauben.
Diese Gleichung ist falsch. Die Menschheit gibt es seit über einer Million Jahren und Hochkulturen seit mindestens zehntausend. Die Schrift ist aber nicht nur sehr viel jünger, sondern wurde über Jahrtausende hinweg nur von einer sehr kleinen Bevölkerungsminderheit beherrscht und verwendet. Noch vor dreitausend Jahren argumentierte Sokrates vehement gegen die Schrift, weil sie den interaktiven Dialog zwischen Menschen durch eine unpersönliche Wissensweitergabe ersetzt, die nicht mehr hinterfragt werden kann. Plato versuchte, durch schriftliche Aufzeichnungen von »sokratischen Dialogen«, welche die Pros und Kontras zu einem Thema widerspiegeln sollten, der Kritik Sokrates’ Rechnung zu tragen, war aber selbst vom verderblichen Einfluss der Schrift überzeugt: »Wer die Schrift beherrscht, in dessen Seele wird Vergessen einziehen, weil er verlernt, sein Gedächtnis zu benutzen.« Bis zur weiten Verbreitung der Schrift haben sich Menschen immer alles Notwendige gemerkt und war ihr entsprechend trainiertes Hirn dazu auch problemlos in der Lage; heute müssen wir uns schon sechsziffrige Telefonnummern sofort notieren, wenn wir sie nicht vergessen wollen!
Bis zur Erfindung des Buchdrucks (Gutenberg, um zirka 1450) war die Kunst des Lesens und Schreibens schon deshalb eine Rarität, weil die Haushalte, auch wenn es hoch herging, nur ein Buch besaßen: die Bibel. Eine weite Verbreitung des Lesens und Schreibens gibt es natürlich überhaupt erst seit der Einführung der allgemeinen
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