Yelena und der Mörder von Sitia - Snyder, M: Yelena und der Mörder von Sitia
aber die Angst zerriss ihm das Herz, und er hat abgelehnt. Noch immer erreichen mich seine Schmerzen. Eine unvollendete Arbeit. Eine verlorene Seele. Solange noch Zeit ist, werde ich tun, was ich kann, sogar, wenn ich mit dem Seelenfinder verhandeln muss.“
21. KAPITEL
S eelenfinder?“ Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. „Warum höre ich andauernd dieses Wort?“, fragte ich den Geschichtenweber. Noch immer standen wir auf der leeren Ebene, die wie die Oberfläche eines gefrorenen Teiches aussah.
„Weil du eine Seelenfinderin bist“, erwiderte er beiläufig.
„Nein“, protestierte ich, denn ich erinnerte mich an den Widerwillen und das Entsetzen in Hayes’ Gesicht, als er mir gegenüber dieses Wort zum ersten Mal erwähnte. Außerdem hatte er davon gesprochen, dass sie die Toten aufweckten.
„Ich zeige es dir.“
Der ebene Boden unter unseren Füßen wurde durchsichtig, und darunter erkannte ich Janco, meinen Freund aus Ixia. Sein bleiches Gesicht war schmerzverzerrt, als das Blut aus der Wunde in seinem Magen schoss, in der noch das Schwert steckte. Das Bild verwandelte sich in Commader Ambrose, der bewegungslos in seinem Bett lag, die Augen blicklos zur Decke gerichtet. Dann sah ich mein eigenes Gesicht, das sich über einen bewusstlosen General Brazell beugte. Unversehens wurde der Blick aus meinen grünen Augen so intensiv, als hätte ich eine Erscheinung. Ein Bild von Fisk, dem Bettlerjungen, der lächelnd Pakete schleppte, huschte vorbei. Danach eine Vision von Tula, die erschöpft auf ihrem Bett lag. Die Szenen verschwammen, als der Boden wieder undurchsichtig wurde.
„Fünf Seelen hast du bereits gefunden“, sagte Mondmann.
„Aber sie waren nicht …“
„Tot?“
Ich nickte.
„Weißt du überhaupt, was ein Seelenfinder ist?“, fragte er.
„Sie wecken die Toten auf?“ Statt einer Antwort zog er nur eine Augenbraue hoch, und ich fügte hinzu: „Nein, ich weiß es nicht.“
„Du musst es lernen.“
„Es mir zu sagen wäre wohl zu einfach, was? Und es würde dem Geschichtenweber sämtlichen Spaß an seiner Arbeit verderben.“
Er grinste. „Was ist mit unserer Abmachung? Kindheitserinnerungen gegen deine Hilfe für Leif.“
Nur seinen Namen zu hören machte mich bereits wütend. Aus ganz einfachen Gründen war ich nach Sitia gekommen. Erstens wollte ich überleben, also floh ich vor dem Hinrichtungsbefehl des Commanders. Zweitens wollte ich lernen, meine magischen Fähigkeiten zu gebrauchen, und drittens meine Familie wiedersehen. Vielleicht würde mir die Welt des Südens mit der Zeit vertrauter werden. Oder auch nicht.
Mein Ziel hatte klar vor mir gestanden, doch der Weg dorthin war gewunden und immer unübersichtlicher geworden, und ich war in zahlreiche Fallen geraten. Jetzt hatte ich das Gefühl, am Ende der Welt mit den Füßen im Morast zu stecken. Orientierungslos.
„Dein Weg liegt klar vor dir“, sagte Mondmann. „Du musst ihn nur entdecken.“
Und die beste Methode, etwas Verlorenes wiederzufinden, bestand darin, zu jener Stelle zurückzukehren, wo man es zuletzt gesehen hatte. In meinem Fall bedeutete das: Ich musste ganz von vorn beginnen.
„Ich verspreche, dass ich versuchen werde, Leif zu helfen“, sagte ich.
Gerüche und warme Wellen umhüllten mein Bewusstsein, als die Erinnerungen aus meiner Kindheit zum Leben erwachten. Apfelparfüm vermischte sich mit dem würzigen Duft von Erde. Ausgelassenem Gelächter und der überschäumenden Fröhlichkeit, die ich beim Schaukeln durch die Luft empfand, folgte ein Streit mit Leif um die letzte Mango. Versteckenspielen mit Leif und Nutty, Kauern auf einem Ast, um Nuttys Bruder bei einem Kampfspiel in einen Hinterhalt zu locken. Haselnüsse, die meine bloßen Arme pieksten, als ihre Brüder unser Versteck entdeckten und einen Angriff starteten. Das klatschende Geräusch von Schlamm, als unser Clan-Führer das Grab für meinen Großvater aushob. Der besänftigende Klang der Stimme meiner Mutter, die mir ein Wiegenlied sang. Die Unterrichtsstunden mit Esau, als er mir die verschiedenen Arten von Blättern und ihre heilende Wirkung erklärte.
Glück und Traurigkeit, Schmerzen, Angst und die Wonneschauer einer unbeschwerten Kindheit stürzten mit einem Mal über mir zusammen. Ich wusste, dass ein paar Eindrücke mit der Zeit verblassen würden, aber an andere würde ich mich stets klar und deutlich erinnern.
„Danke“, sagte ich.
Der Geschichtenweber neigte den Kopf. Er hielt mir die Hand hin, und ich
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