Yelena und der Mörder von Sitia - Snyder, M: Yelena und der Mörder von Sitia
…“
„Erst einmal ausschlafen. Und nicht in der Zitadelle nach Opal suchen“, fuhr sie fort.
„Ich werde es aber tun. Das wisst Ihr.“
Sie nickte. „Aber nicht heute Abend.“
„Was braucht Ihr denn?“
Sie lächelte wehmütig. „Jemand muss mir mit Tulas Fahne zur Hand gehen. Ihre Eltern möchte ich nicht fragen. Das würde ihr Leid nur verschlimmern.“
Wir betraten ihren Turm und stiegen die zwei Stockwerke zu ihrem Arbeitsraum hinauf. In dem großen Zimmer standen bequeme Stühle und Tische, auf denen Nähzeug und Malutensilien ausgebreitet waren.
„Meine Talente als Näherin sind sehr begrenzt“, erklärte Zitora. Suchend lief sie durch den Raum und legte Stoff sowie Nähgarn auf den einzigen freien Tisch, der bei den Stühlen stand. „Es liegt nicht an mangelnder Übung. Ich kann nähen und sticken, aber im Malen bin ich nun mal besser. Wenn ich ein wenig Zeit habe, beschäftige ich mich besonders gern mit Seidenmalerei.“
Zufrieden betrachtete sie die gesammelten Materialien. Dann suchte sie in einem anderen Stapel von Stoffen nach einem Tuch aus weißer Seide. Sie nahm Maß und schnitt ein ein Meter fünfzig mal neunzig Zentimeter großes Rechteck aus.
„Der Untergrund ist weiß. Die Farbe symbolisiert Tulas Reinheit und Unschuld“, erläuterte Zitora. „Und was soll ich in die Mitte setzen?“ Als sie meine Verwirrung sah, erklärte sie: „Mit einer Trauerfahne ehren wir die Toten. Sie repräsentiert diesen Menschen. Wir verzieren sie mit den Dingen, die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben, und wenn wir die Fahne hochziehen, wird die Seele in den Himmel freigesetzt. Also – was würde für Tula am besten passen?“
Sofort wanderten meine Gedanken zu Ferde. Bilder einer Giftschlange, von roten Flammen, die Schmerzen symbolisierten, und einer Flasche mit Curare schossen mir durch den Kopf. Es machte mich zornig, dass ich mir Tulas Geist nicht in Freiheit vorstellen konnte. Wegen meiner Unzulänglichkeit war sie im Dunkel von Ferdes Seele gefangen.
„Er ist ein gerissener Dämon, nicht wahr?“, fragte Zitora, als könnte sie meine Gedanken lesen. „Dreist genug, um im Bergfried zu wohnen, geschickt genug, um unter unserem Dach zu töten und zu allem Überfluss dir das Gefühl zu geben, dafür verantwortlich zu sein. Ein wirklich meisterhafter Trick.“
„Ihr klingt schon fast so wie ein gewisser Geschichtenweber, den ich kenne“, sagte ich.
„Ich nehme das als Kompliment“, antwortete Zitora. Sie durchwühlte seidige Stoffquadrate in allen möglichen Farben. „Aber wenn du auf Irys gehört hättest und hiergeblieben wärst, hätte er Tula und dich erwischt.“
„Aber meine Energie war zurückgekehrt“, wandte ich ein. Irys hatte es für klüger gehalten, Valeks Hilfe besser nicht zu erwähnen.
„Nur weil du Irys folgen wolltest.“ Zitora zog eine ihrer schmalen Augenbrauen hoch.
„Aber ich wäre nicht freiwillig mit Ferde gegangen.“
„Wirklich? Und wenn er dir versprochen hätte, Tula nicht zu töten, wenn du mit ihm kommst?“
Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch dann begann ich nachzudenken. Ihr Argument war nicht von der Hand zu weisen.
„Wenn du die Worte erst einmal ausgesprochen oder absichtlich etwas getan hast, ist es passiert. Alles, was danach geschieht, ändert nichts mehr daran. Und Tula hätte er sowieso getötet“, behauptete Zitora. Sie reihte die farbigen Quadrate an der Tischkante auf. „Wärst du hiergeblieben, dann wärt ihr jetzt beide tot, und wir hätten die Informationen von den Sandseeds nie bekommen.“
„Ihr wollt ja nur, dass ich mich besser fühle.“
Zitora lächelte. „Also, was wollen wir nun auf Tulas Fahne nähen?“
Sofort fiel mir die Antwort ein. „Geißblatt, einen Tautropfen auf einem Grashalm und Tiere aus Glas.“
Opal hatte mir von Tulas Glasmenagerie erzählt. Das meiste davon hatte Tula verkauft oder verschenkt, aber ein paar Tiere hatte sie zurückbehalten und neben ihrem Bett aufgestellt. Unvermittelt schoss mir ein beunruhigender Gedanke durch den Kopf: Was würden wir auf Opals Fahne nähen? Hastig verbannte ich ihn in den hintersten Winkel meines Verstandes. Ich würde es nicht zulassen, dass Ferde auch Opal ermordete.
Zitora malte Umrisse auf die Seide, und ich schnitt sie aus. Anschließend arrangierten wir die ausgeschnittenen Formen auf dem weißen Stoff. Geißblattgewächse bildeten den Rahmen der Fahne, während der Grashalm in der Mitte spross und von einem Ring kleiner
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