Yelena und die verlorenen Seelen - Snyder, M: Yelena und die verlorenen Seelen
„Reyad war …“ Der Mann, den ich in Ixia getötet hatte. Der Grund, warum ich kurz vor meiner Hinrichtung gestanden hatte, ehe mir Valek die Stelle als Vorkosterin anbot. „Woher weißt du …?“
„Geschichtenweber. Schon vergessen? Ich kenne alle Fäden, die mit deinem Leben verwoben sind.“
„Aber ich habe immer gedacht, sein Geist existiere nur in meiner Fantasie. Ein Abbild meiner Ängste. Warum habe ich noch keine anderen Seelen gesehen? Wenn ich ihnen helfen kann, warum sind die dann nicht in meiner Nähe?“
„Vielleicht sind sie das ja, aber du möchtest sie nicht sehen.“
„Das ist ja richtig gruselig“, meinte Leif.
Ich stimmte ihm zu. Bei der Vorstellung, von unsichtbaren Geistern umgeben zu sein, lief mir eine Gänsehaut über den Rücken.
„Ich könnte dich lehren …“
„Gehen wir hinein“, unterbrach ich Mondmanns Angebot. Geister sehen zu können gehörte nun wirklich nicht zu den Dingen, die ich gerne von ihm gelernt hätte.
„Gute Idee. Ich habe nämlich Hunger.“ Leif klopfte sich auf den Bauch.
Wir betraten den Gastraum. Zerkratzte Holztische und lange Bänke standen in dem schmalen Zimmer. Ein Feuer knisterte im steinernen Kamin, aber kein Mensch war zu sehen.
„Abendessen gibt es erst in ein paar Stunden“, begrüßte uns eine Frau, die an einer Tür im hinteren Teil des Raumes lehnte. Als sie Mondmann entdeckte, lächelte sie und kam uns entgegen. „Mr Mond! Ich bin froh, dass Ihr zurückgekommen seid. Eure Freunde sind heute Morgen weggegangen, aber ich nehme an, dass sie zum Essen wieder hier sein werden. Mr Tauno liebt meinen Gemüseeintopf.“
Die Frau hatte ihr stahlgraues Haar zu einem Knoten gebunden. Einige Strähnen hingen ihr ins ovale Gesicht. Angesichts ihrer hellen Haut überlegte ich, ob sie ein Flüchtling aus Ixia war. Als der Commander mit seinem Eroberungszug begonnen hatte, um Ixia unter seine Gewalt zu bringen, waren viele Ixianer nach Sitia geflohen, kurz bevor die Grenzen hermetisch abgeriegelt wurden.
Die Gastwirtin musterte Leif und mich mit ihren himmelblauen Augen. Ihr kluger Blick blieb an meinen Händen hängen. Dann wandte sie sich wieder an Mondmann.
„Braucht Ihr ein weiteres Zimmer?“, wollte sie wissen.
„Ja. Mrs Floranne, darf ich vorstellen: Yelena und Leif.“
Sie wischte sich die Hand an ihrer Schürze ab und streckte sie uns entgegen. „Dann will ich Euch mal Eure Zimmer zeigen.“
Wir folgten ihr die Treppe hinauf in die zweite Etage. Sie führte uns durch einen schmalen Korridor und öffnete die zweite Tür auf der linken Seite.
„Das hier ist Miss Yelenas Zimmer. Teilt Ihr Euch das Zimmer mit Mr Leif, Mr Mondmann, oder braucht Ihr eine eigene Schlafkammer?“
Auf Mondmanns Stirn standen Schweißperlen, und er sah sich um, als suchte er einen Fluchtweg.
„Leif kann bei mir schlafen“, schlug ich vor. In dem winzigen Zimmer standen zwei Betten.
Mrs Floranne musterte mich missbilligend, aber ehe sie etwas entgegnen konnte, erklärte ich: „Er ist mein Bruder.“
Sofort wurde ihre Miene wieder freundlicher. „Ich läute die Glocke, wenn das Abendessen fertig ist. Kommt nicht zu spät.“ Damit ließ sie uns allein.
Leif unterdrückte ein Kichern. „Da habt Ihr aber einen interessanten Ort gefunden, Mr Mond.“
„Hätte sie uns in einem Zimmer übernachten lassen, wenn Leif nicht mein Bruder, sondern mein Liebhaber wäre?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Mondmann.
„Vermutlich missbilligen die Geister unsittliches Benehmen“, grinste Leif.
Mondmann ging den Flur hinunter zu seinem Zimmer, um nachzuschauen, ob Tauno oder Marrok eine Nachricht für uns zurückgelassen hatten. Während wir unsere wenigen Habseligkeiten auf den Betten ausbreiteten, dachte ich über Leifs Worte nach.
„Ist es auch unsittlich, wenn Valek und ich …? Du weißt schon.“
„Yelena.“ Leif tat empört. „Jetzt erzähl mir bloß nicht, dass du und Valek …“
„Beantworte einfach nur meine Frage.“
„Einige Clans, zum Beispiel die Bloodgood-Sippe, sind sehr streng. Bei ihnen muss ein Paar erst heiraten, bevor es zusammenleben darf. Die Zaltanas sehen es auch lieber, wenn ein Mann und eine Frau heiraten, aber sie regen sich nicht darüber auf, wenn sie es nicht tun. Die Sandseeds dagegen halten überhaupt nichts vom Heiraten. Sie machen einfach, was sie wollen.“ Er breitete die Arme aus. „Wenn man bedenkt, dass sie Kleidung verabscheuen, ist es geradezu unverständlich, dass es bei ihnen nicht vor
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