Ysobel – Das Herz aus Diamant
gleichmachen«, vermutete sie.
»Dann werden wir gemeinsam sterben«, entgegnete er gelassen. »So oder so wird der morgige Tag eine Entscheidung für uns bringen.«
Ysobel sah ihm nach, wie er Thildas Kemenate verließ. Sie hörte seine Anweisungen an die Wache vor ihrer Tür und blickte sich in dem prächtigen Gemach um, als könne sie es immer noch nicht fassen, dass sie sich wieder in diesen vier Wänden befand. Ihre Augen blieben an den Truhen der Herrin von Locronan hängen. Kleider!
Wenigstens ein bisschen Stoff, um ihren kaum noch vorhandenen Stolz wieder aufzurichten. Vermutlich hatte jeder Mann auf den Zinnen gewusst, dass sie nichts unter diesem Umhang trug. Vielleicht war es sogar den Truppen des Herzogs aufgefallen. Über das Stadium purer Demütigung längst hinaus, schenkte Ysobel ihrem armen Körper keine sonderliche Aufmerksamkeit mehr. Aber wenn sie schon sterben musste, dann wollte sie es wenigstens wie eine echte Locronan tun und nicht wie eine nackte Stalldirne.
Hastig stürzte sie an die gegenüberliegende Wand und stemmte den schweren Deckel auf. Die Fülle der Roben, Untergewänder und Schleier, Gürtel und Überwürfe nahm ihr den Atem. Niemals hatte sie soviel Luxus erwartet. Kein Wunder, dass Thilda das Gold wie Quellwasser durch die Finger geronnen war.
Auf der Suche nach einem Gewand, das nicht allzu üppig mit Goldstickereien, Perlen oder kostbaren Spitzen überladen war, musste Ysobel bis auf den Boden der Truhe dringen. Mit einem schnellen Blick zur Tür vergewisserte sie sich, dass sie tatsächlich allein blieb, dann schlüpfte sie in ein dünnes, fast durchsichtiges Hemd aus feinstem Leinen, dessen Ausschnitt sich mit einem bestickten Bänderzug regulieren ließ. Danach folgte ein blassgrünes Wollgewand mit langen Ärmeln, das durch Schnürungen jeder Figur angepasst werden konnte. Eine lose, tannengrüne Tunika mit schmalen grauen Fellbesatz vervollständigte ihre untadelige Toilette.
In einer weiteren Truhe fand Ysobel Strümpfe, die mit passenden Bändern über dem Knie befestigt wurden, und weiche Pantöffelchen aus braunem Ziegenleder. Sie schmiegten sich fabelhafterweise ihrem Fuß genau an. Es fühlte sich ganz wunderlich an, warme Füße zu haben. Zusammen mit dem angenehmen Gefühl der glatten Strümpfe auf ihrer Haut verleitete es sie zu einem trügerischen Wohlbefinden, aus dem sie sich gewaltsam reißen musste. Nein, sie wollte nicht darüber nachdenken, wie es war, täglich solche Kleider zu tragen und die Herrin eines eigenen Haushalts zu sein.
Schon deswegen nicht, weil die Züge des dazu passenden Hausherrn ganz selbstverständlich jene von Jos de Comper waren. Doch es gab keine Zukunft für die Geisel von Locronan und einem ehrbaren Ritter.
Die Frau, die die Nacht nackt und zitternd auf der Streckbank verbracht hatte, hatte jedes Recht auf ein ehrbares Leben verspielt! Besser, sie vergaß, dass es diesen einen Mann gab. Dass sie die berauschende Seligkeit vollkommener Harmonie miteinander geteilt hatten und für einen verwirrenden Augenblick lang vollkommen eins gewesen waren.
Ein stechender Schmerz in ihrem Magen riss sie in die Wirklichkeit zurück. Verwirrt legte sie die Hände auf ihren armen Bauch und begriff, dass es schlicht schrecklicher Hunger war, der sich nicht länger unterdrücken ließ. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Male etwas gegessen hatte. In der Höhle mit Jos? Nein, nicht schon wieder er!
Ihre Blicke flogen durch den Raum, und sie entdeckte auf einem kostbar eingelegten Tisch neben der Fensternische ein höchst verlockendes Tablett. Es sah aus, als sei der Wolf von St. Cado von der Nachricht der Belagerung mitten in einem Imbiss gestört worden. Der Glaspokal war noch halb voll, das Brot angebissen und die saftigen Bratenscheiben in der erstarrten Soße erkaltet. Ysobel schluckte und handelte ohne zu zögern. Sie goss den Rest Wein in den Kamin, spülte das Glas mit etwas Wein noch einmal aus und füllte es von neuem. Das musste genügen, um die Spuren der Lippen zu tilgen, mit denen sie nicht in Berührung kommen wollte.
Da sie nirgendwo ein Speisemesser fand, aß sie mit den Fingern. Der Braten musste noch aus den Vorräten der zerstörten Küche von Locronan stammen. Er war zart mit Kräutern gewürzt und über einem Feuer aus besten Kiefernscheiten gegart worden. Sogar kalt schmeckte er köstlich! Ysobel aß ihn bis zum letzten Brocken auf, dann tunkte sie das Brot in die kalte Soße, bis der Zinnteller
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