Ysobel – Das Herz aus Diamant
in makelloser Sauberkeit glänzte.
Der schwere rote Malvasier aus Gratiens Vorräten tat ein übriges, dass sie sich danach nicht nur satt, sondern seltsam schwerelos und unerwartet angenehm fühlte. Ihr Kopf sank gegen die bemalte Mauerrundung des Fenstererkers, und ihre Lider wurden immer schwerer. Die bedrückende Stille auf den Wällen der belagerten Burg tat ein Weiteres dazu, dass sie trotz der ein wenig unbequemen Haltung tief und fest schlief.
20. Kapitel
Hier steht ein Menschenleben gegen die gesicherte Zukunft eines ganzen Landes!«
»In der Tat. Aber würdet Ihr dieses Leben opfern, wenn es sich um Eure Ziehtochter handeln würde, Herr Waffenmeister? Wenn auf den Zinnen dieser Burg die Dame Graciana des Grafen von Lunaudaie stehen würde und wir um ihr Leben verhandelten?«
Jos de Comper warf Pol de Pélage, dem grauhaarigen Waffenmeister seines Fürsten, einen düsteren Blick zu, und sein ausgestreckter Arm hielt Kèrven des Iles fest, um dessen geliebte Gemahlin es bei dieser fiktiven Drohung ging. Der alte Kämpe runzelte die Stirn, öffnete den Mund und sagte trotzdem keinen Ton. Jos hatte nichts anderes erwartet. Die Männer drehten sich mit all ihren Argumenten und Plänen im Kreise.
»So, wie es aussieht, sind wir in der Übermacht«, fasste der Fürst die Tatsachen nüchtern zusammen. »Mit den zusätzlichen Kriegsmaschinen, die im Laufe dieses Tages eintreffen, können wir morgen bei Tagesanbruch die Burg stürmen und Cocherels Söldnerkompanie ein für alle Male zerschlagen. Der Sieg war noch nie so nahe und so sicher! Was der Wolf von Cado für einen raffinierten Schachzug gehalten hat, ist dank der frühzeitigen Informationen des Seigneurs de Comper zu einer ausweglosen Falle für ihn und seine Bluthunde geworden. Es ist vorbei!«
Jos de Comper, dem das Lob galt, stimmte ihm zwar im Geheimen zu, aber er wusste mit ebensolcher Klarheit, dass dieser Sieg Ysobels Leben kosten würde. Er kannte seine Geliebte zu gut. Sie würde diesem Schurken bis zum letzten Atemzug trotzen. Es gab keine Drohung, der sie sich gebeugt hätte. Keine Angst, die sie nicht kannte und der sie nicht trotzdem standhielt.
»Welche Ungerechtigkeit des Schicksals, dass er diesen stolzen Charakter einer Frau gegeben hat und den Bruder als Schwächung geschaffen hat«, murmelte der Graf von Vannes. »Sie hätte diese Mauern vermutlich für uns gehalten!«
»Statt dessen wird sie vor diesen Mauern für uns sterben«, meinte Kèrven des Iles bitter. »Unser Angriff ist das Todesurteil für Ysobel de Locronan. Der alte Wolf hat nichts mehr zu verlieren. Er fordert eine unmögliche Geste der Ritterlichkeit für sie, die gegen das Interesse der ganzen Bretagne steht.«
Jos verschränkte die Arme vor dem Harnisch und betrachtete die Versammlung mit düsteren Blicken. Die tapfersten Ritter des Heeres, die klügsten Diplomaten und die raffiniertesten Politiker waren hier versammelt, aber nicht einer von ihnen wusste einen Weg, Ysobels Leben zu retten. Sie alle kannten auch nicht die Schönheit und die anrührende Leidenschaft der jungen Frau, die sie aus politischen Erwägungen zum Tode verurteilten. Sie wussten weder etwas von ihrer Einmaligkeit noch davon, wie bedeutsam ihr Leben für Jos geworden war.
Raoul de Nadier ließ seinen Freund nicht aus den Augen. So schroff und wortkarg sich sein Waffenbruder zu diesem Thema auch gab, er kannte ihn gut genug, um die mühsam unterdrückte Sorge zu fühlen, die Jos’ Nerven bis zum Reißen anspannte. Er würde doch keine Dummheit begehen?
Unbehagliches Schweigen erfüllte das Zelt des Herzogs der Bretagne. Von den Kerzen, die auf dem länglichen Holztisch brannten, zogen feine Rauchfäden nach oben, und Jean de Montfort rollte einen der Pläne, die er zuvor konsultiert hatte, nervös wieder zusammen. Das Rascheln des Pergaments kam Jos überlaut vor. Hatte er sich so in seine Gedanken verloren, dass er am Ende die schreckliche Entscheidung überhört hatte?
»Wir rüsten in jedem Fall für den Angriff«, erklärte der Fürst in diesem Moment. »Cocherel beobachtet uns, er soll sehen, dass seine Drohungen keinen Einfluss auf unsere Entschlüsse haben.«
»Und die Demoiselle?« Jetzt war es der alte Waffenmeister, der die Frage stellte, die allen anderen ebenso am Herzen lag.
»Er wird seiner Geisel bis zum Sonnenaufgang kein Haar krümmen. Dazu ist die junge Frau viel zu kostbar«, erklärte Montfort kurz angebunden. Sein Ton besagte deutlich, dass auch ihm die
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