Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman
mehr da ist.«
Lenas dunkelbraune Augen liefen schier über vor ehrlicher Anteilnahme. Anteilnahme, die tief in Kiyokos Herz reichte und das schmerzhafte Gefühl des Verlusts wieder weckte, das sie drei Monate lang verdrängt hatte.
»Ich auch«, flüsterte sie.
»Bitte versteh mich nicht falsch«, sagte Lena. »Aber du bist nicht dein Vater. Du brauchst dir seine Schuhe als Unternehmensmogul
und
als Anführer der Onmyōji nicht anzuziehen. Das war nie dein Weg.«
Kiyokos Magen krampfte sich trotz der Vorsicht, mit der Lena ihre Kritik äußerte, zusammen. »Ich versuche ja gar nicht beides. Ryuji-san leitet die Firma, nicht ich.«
»Wirklich? Es sieht trotzdem so aus, als würdest du dich zerreißen. Die Kiyoko, die ich kannte, war so selbstbewusst, dass es einem schon auf die Nerven gehen konnte, und sie hat nie an irgendetwas Zweifel gehabt.« Sie schnitt eine Grimasse. »Die Frau, die den
Onmyōdō-
Kodex gebrochen hat, um ihren Vater zu retten – das war die Kiyoko, die ich kannte. Ich habe dich noch nie so zögerlich, so unsicher gesehen wie jetzt. Deshalb nahm ich an, zumal du Watanabe-san mitgebracht hast, dass die Firma dich zu sehr ablenkt.«
Zögerlich. Unsicher.
Die Worte waren zutreffend, wenn auch unangenehm.
»Nein, das ist nicht der Grund«, sagte Kiyoko. »Ich mache mir Sorgen, dass die Welle der Korruption, die Asien überrollt, auch die Firma getroffen haben könnte, und gehe deshalb persönlich die Zahlen durch. Aber ich mische mich nicht ins Tagesgeschäft ein.«
»Und was ist es dann?«
Kiyoko holte tief Luft und stieß sie dann langsam wieder aus. »Seit mein Vater tot ist, wird alles, was ich anfasse, zu Scheiße.«
Lena rümpfte die Nase. »Du hängst offenbar zu oft mit Murdoch herum.«
»Falls man Sora-senseis Prophezeiungen glauben darf, bin ich die begabteste Mystikerin, die seit Jahrhunderten in meine Familie hineingeboren wurde. Und trotzdem konnte ich ihn nicht retten, Lena. Als ich in der Garage ankam, war er noch am Leben, rang noch um Atem. Ich habe den Leuten um mich herum Ki abgezapft und jedes Fitzelchen von meinem eigenen in ihn hineingepumpt, und trotzdem konnte ich ihn nicht retten.«
Die andere starrte sie an. »
Falls
man Sora-senseis Prophezeiungen glauben darf? Willst du damit sagen, dass du nicht daran glaubst? An die Prophezeiung, die voraussagt, dass du zur rechten Hand Abe no Seimeis aufsteigen wirst? Die, die dich als seine unsterbliche Nachfolgerin nennt?«
Kiyoko antwortete nicht gleich. Sie ließ die Wahrheit erst einmal sacken.
»Denk doch mal über die Fakten nach«, begann sie dann. »Ich habe den
Onmyōdō-
Kodex gebrochen, indem ich anderen Ki weggenommen habe. Es ist mir nicht gelungen, meinen Vater zu heilen. Und hier bin ich – ein Schatten der Person, die ich einmal war. Seither haben all meine Zauber, mit denen ich das Böse in seine Schranken weisen wollte, versagt, meine eigenen Krieger haben sich gegen mich gestellt, und mein Haus wurde von Dämonen zerstört. Ich habe an die Prophezeiung geglaubt, weil mein Vater an sie geglaubt hat. Aber jetzt, da er fort ist – da er nicht mehr für mich da ist –, kommt die Wahrheit ans Licht. Ich bin es nicht wert zu transzendieren. Er hat sich geirrt.«
»Hast du schon mit Sora-sensei darüber gesprochen?«
»Natürlich. Er sagt, dass die Sterne nicht lügen. Aber glaubst du wirklich, er würde einen fünfundzwanzig Jahre alten Irrtum eingestehen? Einen, um den herum mein Vater sein ganzes Leben aufgebaut hat?«
Lena grub die Spitze ihres Stiefels in den Sand der Arena.
»Was ich weiß, ist Folgendes«, entgegnete sie. »Dein Vater war einer der cleversten, klügsten Männer, die ich jemals kennengelernt habe. Seine Instinkte waren unglaublich. Erinnerst du dich noch an das Ausgrabungswerkzeug meines Vaters? Tatsu-san wusste, dass es für mich von viel größerem Wert war als für dich, allein aufgrund seiner Beobachtungen, als er mich mitsteigern sah.«
Kiyoko nickte. »Es war seine Idee, dir das Werkzeug zu schenken, nachdem ich es ersteigert hatte.«
»Ich habe es noch immer.« Lena lächelte. »Ich kann keine Aussage über Sora-sans Glaubwürdigkeit machen, aber ich kann mich für die deines Vaters verbürgen. Er hatte viel mehr Zeit, dich zu erleben als mich. Wenn er gesagt hat, dass er dich für geeignet hält zu transzendieren, dann bist du es auch.«
»Aber alles hat sich verändert, seit mein Vater tot ist.«
»Tatsächlich?« Lena sah sie zweifelnd an. »Bist du denn im
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