Zärtlicher Eroberer
sich hier ein wenig zu etablieren. Kannst du dir vorstellen, was seine Erfindung für die Sicherheit im Bergbau bedeutet?“
Natürlich konnte sie sich das vorstellen. Das Schilfrohr, das man für Zünder bei Sprengungen derzeit verwendete, war unberechenbar. Oft gingen die Zünder zu früh los, häufig aber auch erst mit einem Tag Verspätung. In jedem Fall gab es wegen ihrer Fehlerhaftigkeit Tote oder Verletzte. „Ich würde ihn gern empfangen“, erwiderte Philippa unverbindlich.
Es fiel ihr an diesem Abend schwer, sich auf geschäftliche Dinge zu konzentrieren, denn ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Luciens verstörendem Brief zurück. Jedes Mal, wenn sie zu Valerian hinüberblickte, geriet sie ins Grübeln. Hatte er Verrat begangen? Sie wusste so wenig von dem, was er im diplomatischen Dienst für sein Land getan hatte. Er war ein Ehrenmann. Dass er seine eigenen Interessen für das Wohl ihrer Familie geopfert hatte, bewies ihr, wie richtig sie ihn eingeschätzt hatte. Allerdings war ihr auch klar, dass die Ehre für ihn wichtiger war als alles andere, ihre, aber auch seine eigenen Meinungen und Wünsche eingeschlossen.
In London, im politischen Zentrum, hatte sie die Erfahrung gemacht, dass die Loyalität zum eigenen Land oftmals in Konflikt geriet mit dem persönlichen Ehrgefühl. Es war durchaus möglich, dass das, was Valerian für einen ehrenvollen Weg gehalten hatte, für andere ab einem gewissen Punkt zu einem verräterischen Weg geworden war. Diese Zwiespältigkeit belastete sie. Bislang waren Verräter für sie stets Spione gewesen, die für eine Handvoll Geld ihr Land verrieten und verkauften. Sie fing an einzusehen, dass diese Sichtweise etwas eingeengt sein konnte. Wenn die Vorwürfe gegen ihn nun begründet waren – wie würde die Öffentlichkeit damit umgehen? Würde man in der Auslegung so großzügig sein wie Philippa, oder würde man Valerian wie einen herkömmlichen Verräter behandeln? Mehr als nur sein Ruf stand auf dem Spiel. Sie kannte das Urteil bei Verrat; dass Valerian von Adel war, würde ihn nicht davor schützen.
Beim letzten Gedanken erschauerte sie, was ihr einen befremdeten Blick von Beldon eintrug. „Mir ist nur von dem Sorbet kalt geworden“, erklärte sie leichthin und zwang sich, diese düsteren Gedanken zu verdrängen.
Im Grunde zäumte sie das Pferd von hinten auf. Den ganzen Nachmittag hatte sie unauffällig nach irgendetwas gesucht, das es ihr leichter machen würde, Valerians Arbeit als Diplomat zu verstehen. Aber sie hatte nichts gefunden, nicht einmal den Ort Negush auf allen vier Landkarten von Europa, die Valerian besaß.
„Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?“, erkundigte sich nun auch Valerian.
„Aber ja! Ihr benehmt euch wirklich wie zwei überbesorgte Glucken“, zog sie die beiden Männer auf und aß weiter von ihrem Sorbet.
Beruhigt nahmen Beldon und Valerian wieder ihre Unterhaltung über Bickfords neue Konstruktion auf. „Erfindungen sind so eine Sache“, meinte Valerian. „Aber selbst die beste taugt nichts, wenn sie nicht in größeren Mengen produziert werden kann.“
Beldon winkte ab. „Das hat mich ja gerade so an Bickford beeindruckt. Er hat an alles gedacht. Er hat eine Maschine zur Herstellung des Zünders entwickelt, die den Schwarzpulverkern fest mit Seilen ummantelt, und nun plant er, diese Seilummantelung wasserfest zu machen, indem er einen besonderen Lack verwendet. Er hat alle Pläne bei sich und wird bis Ende der Woche in St. Mawes sein. Wir könnten hinreiten und ihn besuchen, Val.“
„Ich habe morgen frei. Die Materialien für die Reparatur der Mauer werden erst übermorgen geliefert, also kann ich ohnehin nicht weiterarbeiten. Philippa, möchtest du auch mitkommen?“, fragte Valerian.
„Das würde ich gern, aber morgen werden die Leute eintreffen, die den Musiksalon tapezieren und die neuen Vorhänge anbringen. Da sollte ich lieber dabei sein.“ Außerdem bot ihr das die Gelegenheit, sich noch einmal im Haus umzusehen, um ihre Befürchtungen weiter zu mindern. Vielleicht war es ja ein gutes Zeichen, wenn sie nichts finden konnte. Vielleicht war seine diplomatische Arbeit tatsächlich so langweilig gewesen, wie es so oft in Berichten geschildert wird. Vielleicht hatte er seine ganze Zeit damit verbracht, Gesellschaften zu geben und die Ehefrauen der Abgeordneten zu unterhalten. Das wäre in diesem Fall gar nicht einmal das Verkehrteste.
Sie war plötzlich viel weniger eifersüchtig auf all diese
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