Zärtlicher Sturm
überhaupt nicht mehr, was sie sagen sollte. Die Offenheit ihrer Schwester schockierte sie. Und außerdem beneidete sie sie nach ihrer enttäuschenden Erfahrung mit Joel.
Schließlich sagte sie mürrisch: »Ich weiß nicht, warum du so böse auf mich bist. Schließlich hast du doch eine wunderbare Zeit mit Lucas Holt verbracht.«
Sharisse hatte darauf keine Antwort parat.
36
Lucas glaubte allmählich, wenn man einen Spielsalon gesehen hatte, hatte man alle Spielsalons gesehen. Der, den Henri in Südfrankreich gefunden hatte, war prächtiger als die meisten anderen, und er war so geräumig, daß die Tische weit auseinander standen. Das Aprilwetter ließ zu, daß die hohen Fenster offenstanden, und in der Luft mischten sich die Gerüche der Blumen mit dem Parfüm der Frauen. Und es waren viele Frauen in diesem Raum.
»Die ist verheiratet«, sagte Henri, als er bemerkte, daß Lucas eine Brünette ansah. »Aber es freut mich zu sehen, daß dein Interesse überhaupt wieder geweckt ist, mon ami.«
Lucas brummte mürrisch. »Ich habe den Eindruck, daß du mir, wie sonst auch, über jeden der Anwesenden etwas erzählen kannst.«
»Natürlich. Im Gegensatz zu dir habe ich meine Zeit heute nicht damit vergeudet, am Strand spazierenzugehen. Ich habe einen Kellner aufgetrieben, der sehr gesprächig ist. Es war außerordentlich informativ.«
Zu den speziellen Begabungen von Henri Andrevie gehörte es, vorher zu wissen, mit wem er spielte. Es gelang ihm stets, über jeden einzelnen etwas in Erfahrung zu bringen, ehe er sich hinsetzte, um ihnen das Geld abzunehmen. Informationen persönlicher Natur brachten ihm einen Vorteil gegenüber den anderen ein, und Henri konnte sehr gut von seinen Spielgewinnen leben.
Er war sehr zierlich, und er und der große Lucas waren ein beachtliches Paar. Er war blond und hatte taubengraue Augen, die schelmisch zwinkerten, und er sah jünger als neununddreißig aus. Er war leichtsinnig und leichtlebig und konnte sich mit Ausreden aus jeder Lage winden und die Damen mit nicht mehr als einem Lächeln bezaubern. In den Monaten, in denen sie wieder einmal gemeinsam gereist waren, hatte Lucas gesehen, daß Henri seine Anziehungskraft nicht eingebüßt hatte.
»Die Engländer spielen gegeneinander und halten sich von den anderen Nationen fern. Dieser Herzog dort drüben spielt sehr ernst und gewissenhaft, aber er gewinnt nie. Diese beiden Messieurs dort drüben, Varnoux und Montour, sind Brüder, aber sie haben sich andere Namen zugelegt, damit es niemand erfährt. Sie geben einander Zeichen und verständigen sich mit Signalen. Halte dich ihrem Tisch um Himmels willen fern. Mit dem dort wirst du mit Vergnügen spielen.« Henri deutete auf einen gutgekleideten Mann, der auf eine Weise hübsch war, die seine Züge fast feminin erscheinen ließ. »Er hat keine Ahnung von Karten, aber er ist aus tiefstem Inneren eine Spielernatur, und er schließt jede Wette ab. Übrigens ist es seine Frau, die du angestarrt hast. Sieht gut aus, findest du nicht?«
»Doch, sehr.«
Henri seufzte. »Wenn ich mich auch noch so sehr bemüht habe, dich dazu zu bringen, daß du dich deines Lebens freust – ich muß dich warnen, dich nicht an ihr zu versuchen. Es sei denn, du hättest nichts dagegen, daß ihr Mann zuschaut.«
»Das ist wohl doch nicht mein Fall.«
»Ja, die beiden sind ein dekadentes Paar. Ich habe gehört, seine Spezialität bestünde darin, Jungfrauen zu verführen, und er schließt Wetten darauf ab, wie schnell er es schafft. Seine Frau ist bestens über all das informiert. Ist das nicht reizend?«
»Aber bekommt er denn nie Ärger mit einem aufgebrachten Vater oder mit Brüdern?«
»Gelegentlich. Das ist auch der Grund, aus dem er und seine Frau nie allzu lange an einem Ort bleiben.«
Lucas lachte. »Du darfst nicht alles glauben, was man dir erzählt, Henri.«
»Oh, aber in jeder Lüge steckt ein Körnchen Wahrheit.«
Eine Erinnerung nagte an Lucas. »Er heißt doch nicht zufällig Antoine, oder doch?«
Henri zuckte die Achseln. »Die beiden heißen Gautier. Die Vornamen weiß ich nicht. Warum? Weißt du etwas über ihn?«
»Es wäre ein zu großer Zufall. Ich weiß selbst nicht, wie ich auf den Gedanken gekommen bin.«
Er wußte es nur allzu gut. Er war an diesem Tag zu lange allein gewesen, und wie immer, wenn er allein war, hatte er ununterbrochen an Sharisse gedacht. Jedes Wort, das sie miteinander geredet hatten, war in seinem Gedächtnis aufgezeichnet, als hätten diese Gespräche
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